«Die Winterreise»
Christian Spuck choreographiert Schubert/Zender
Längst hat sich der Sommer verabschiedet. Wie in Eiseskälte erstarrt, verharren die Tänzer auf der Bühne des Zürcher Opernhauses, als ob sie eines Toten gedächten. Nur Neonlicht. Nackte Betonwände ringsum. Nichts Wärmendes, nirgends. Selbst die Musik scheint zu frösteln. Die Klänge klirren, als Mauro Peter hinabsteigt in den nicht gar so tiefen Orchestergraben, um von dort aus eine «Gute Nacht» zu besingen, die dem Wanderer so gar nichts Gutes verheißt: «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.»
Schuberts «Winterreise» wird vorgestellt in der «komponierten Interpretation» von Hans Zender, die schon John Neumeier und Tim Plegge als Ausgangspunkt diente. Christian Spuck eröffnet sie alle Möglichkeiten, das Abgründige aufzuzeigen, das man in den Liedern allzu gern überhört. Und das ist durchaus konkret zu verstehen. Immer wieder öffnet sich der Boden, als gäbe es dort eine Grabesgrube. Mal stehen die Menschen darin, dicht gedrängt, den Rücken zum Publikum gekehrt, so wie man das aus Gemälden von René Magritte kennt. Mal taucht daraus ein Lied lang eine der Krähen auf, die erst zum Schluss, wenn vom «Leiermann» die Rede ist, symbolkräftig, das heißt in Überzahl, die Bühne besetzen.
Es sind solche Bilder, die sich dem Gedächtnis einbrennen. Grandiose Bilder, die hinter aller Bewegtheit stets auch den Stillstand spüren lassen. Bilder, bis in die letzte Geste hinein auskomponiert von einem Choreografen, der die Schwergewichte eines Balletts setzt wie kaum ein anderer. Ohne eins der «schaurigen Lieder» Schuberts wortwörtlich auszudeuten, lässt er das Zeitliche darin immer wieder Ereignis werden – ganz gleich, ob es sich um eine fast unwirklich verlangsamte, automatenhafte Marschbewegung des gesamten Corps handelt, das kontrapunktisch gesetzte Gegenüber zweier Paare oder den stürmischen Lauf eines Flüchtenden, der hinter sich den Schnee so aufwirbelt, als wär’s der Schweif eines Kometen.
Diese «Winterreise» ist ein Ballett für die ganze Kompanie. Zwar wird immer mal wieder jemand solistisch herausgehoben. Zwischendurch findet sich sogar für Wei Chen und Mark Geilings ein Pas de deux. Aber niemals steht der wirklich wunderbar singende Mauro Peter als Identifikationsfigur im Mittelpunkt. Vielmehr wird die Einsamkeit, die Entfremdung, das Erkalten der Gefühle erlebbar gemacht inmitten eines Ensembles, das allenfalls formal noch eine Zusammengehörigkeit signalisiert – sei es durch die dunkle Kostümierung, die Emma Ryott erst gegen Ende hin fleischfarben auflockert, sei es durch die Choreografie, die sich aller Uniformität zum Trotz sehr gegensätzlich gibt. Spuck selbst spricht im Programmheft von einem riesengroßen Tableau, das dem Zuschauer erlaubt, in diese «Winterreise»-Welt einzutauchen und dabei diese Texte neu zu erfahren. Auf jeden Fall ist sein Ballett – wie zuletzt schon seine grandiose Inszenierung von Verdis «Messa da Requiem» – ein bewegendes, wahrhaft imponierendes Ereignis. Nicht zuletzt auch auf musikalische Weise. Die Philharmonia Zürich unter Leitung Emilio Pomàricos bleibt der «komponierten Interpretation» aller Schwarzmalerei zum Trotz keine Orchesterfarbe schuldig.
Hartmut Regitz
Am 2. und 18. Dezember im Opernhaus Zürich
https://www.opernhaus.ch/spielplan/kalendarium/winterreise/season_50348/