Rezensionen 5.10.
Goecke «La strada» in München
Am 6. Oktober im Gärtnerplatztheater
Den «grauenhaften Abgrund, der zwischen zwei menschlichen Wesen aufbrechen kann», wollte Federico Fellini in seinem Film «La Strada» zeigen, und den ahnt man von Anfang im gleichnamigen Ballett. Wie aus einer Meereswoge taucht da Rosa auf, von der in der Vorlage allenfalls die Rede ist. Längst hat sie erlitten, was auch ihrer Schwester widerfahren wird: ein liebloses Schicksal, gleichsam von Zampanò zu Tode geprügelt. Ihr Aufschrei könnte als Warnung verstanden werden. Doch Gelsomina, ein «etwas verrücktes Mädchen» (wie es im Drehbuch heißt) scheint ihn nicht hören zu können. Von der Mutter verkauft, bleibt ihr keine andere Wahl; sie ist Zampanò ausgeliefert, assistiert dem Muskelmann sklavisch bei seiner Zirkusshow, lebt mit ihm auf der Straße.
Eine bekannte Geschichte, von Fellini 1954 auf unnachahmliche Weise erzählt. Marco Goecke versucht erst gar nicht, es ihm gleichzutun; ein Handlungsballett im herkömmlichen Sinn wird von ihm niemand erwarten. Wie immer hat sein Lichtdesigner Udo Haberland die Bühne umschattet. Von einer Meereswoge mal abgesehen, die sich später zum Kornfeld wandelt, gibt es kein Dekor, das vom Beweggrund ablenken könnte. Und den erforscht der meisterhafte Choreograf auf seine eigene, unverwechselbare Art. Ins Innere der Menschen hineinhorchend, macht er tanzend ihre Gefühle sichtbar, die sie nur widerwillig äußern: hektisch, heftig, wie vom Unaussprechlichen überwältigt. Schwer, sich da nicht einsam zu fühlen. Schier unmöglich, einen Gleichklang der Gestik herzustellen.
Und doch gelingt das Goecke zwischendurch auf wundersame Weise. Er bleibt überhaupt nah dran an der Vorlage, wenngleich eher assoziativ denn narrativ. Und wenn man auch nicht alles ohne Vorkenntnis versteht, nicht verstehen muss, bleibt doch am Ende ein Gesamteindruck, der dem Film entspricht. Das liegt natürlich an der Musik von Nino Rota,- die, von Michael Brandstätter dirigiert, das Zirkushafte des Stücks betont, wenn nicht sogar herausposaunt. Das liegt vor allem auch an der sekundenschnellen Choreografie von Marco Goecke, die stets etwas Unerklärliches hat, etwas vieldeutig Vages, geradezu Albtraumhaftes. Sie lässt sich nicht vordergründig vereinnahmen, selbst wenn sich Alessio Attanasio als Clown mal eine rote Nase aufsetzt oder Javier Ubell sensibel balancierend den Seiltänzer Matto gibt. Schon in Stuttgart hat Özkan Ayik Erfahrungen in Goecke-Choreografien gesammelt. Hier, im Münchner Gärtnerplatztheater, wächst er über sich hinaus – und gleichzeitig in die Filmrolle Anthony Quinns hinein. Als Zampanò lässt er selbst im Grobschlächtigen etwas Verletzbares spüren: für Verónica Segovia ein idealer Widerpart. So kann sie als Gelsomina den «Abgrund», von dem Fellini spricht, ins Grauenhafte vertiefen. Der Rest ist nicht Schweigen. Mit einem hysterischen Lachanfall macht sich Zampanò Luft, als er vom Tod seiner einstigen Assistentin erfährt.
Hartmut Regitz
https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/strada.html?ID_Vorstellung=1852&m=66