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Skandal auf Reisen

Franz Liszt und die Gräfin d'Agoult

Wenn Sie die Geschichte zweier glücklicher Liebender schreiben, so wählen Sie als Schauplatz die Ufer des Comer Sees! Ich kenne sonst keine so offensichtlich vom Himmel gesegnete Landschaft, keine, in der der Zauber eines liebeerfüllten Lebens natürlicher erscheinen könnte.» Dies schrieb Franz Liszt am 20. September 1837 in Bellagio, der «Perle des Comer Sees», wie der Ort sich heute stolz nennt. Er war nicht der erste, der dem Zauber des von hohen Gipfeln umfangenen Wassers verfiel. Schon Plinius der Jüngere erbaute sich dort, wo die drei Arme des Y-förmigen Sees sich treffen, auf jenem Vorgebirge, das einen atemberaubenden Blick in den nördlich auf schneebedeckte 2000er zuführenden Seearm gewährt, seine «Villa Tragoedia». Shelley fand das Panorama schöner als alles, was er bislang gesehen; der weitgereiste Stendhal schwärmte nicht minder; und Flaubert wollte in dieser «Shakespeare’schen Landschaft» am liebsten gleich tot umfallen («on voudrait vivre ici et y mourir»).

Die Romantiker waren generell empfänglich für Italiens Reize, aber dieser Mix aus südlicher Anmut und alpiner Majestät schlug sie vollends in den Bann. «Ja, mein Freund, wenn Sie in Ihren Träumen das Idealbild einer jener Frauen vorüberziehen sehen, deren dem Himmel entstammende Schönheit nicht die Sinne verführt, sondern die Seele erhebt; wenn Sie ihr zur Seite einen Jüngling von treuem und aufrichtigem Herzen erblicken, dann verweben Sie beide in eine ergreifende Liebesgeschichte und lassen Sie diese mit den Worten beginnen: An den Ufern des Comer Sees.»

Liszt musste es wissen, mit ergreifenden Liebesgeschichten kannte der knapp 26-Jährige sich aus. Kein Grund allerdings für uns Normalsterbliche, neidisch zu werden. Denn wahres Liebesglück fand der größte Herzensbrecher der Romantik allenfalls für kurze Zeiten. Drei Liebesverhältnisse prägten sein langes Leben, zwei von ihnen scheiterten tragisch-schön. Mit 16 verguckte sich der schon in Paris wohnende Pianist unsterblich in die Gräfin de Saint Cricq, doch deren standesbewusster Vater verbot dem Wunderknaben den Kontakt. Liszt suchte Trost in religiösen Schwärmereien, seine Caroline wollte gar ins Kloster. Noch 1853, ein Vierteljahrhundert nach der Trennung, offenbarte die längst unglücklich Verheiratete Liszt ihre fortgesetzte Liebe: «Lassen Sie mich immerdar in Ihnen den einzigen Leuchtstern meines Lebens sehen und das tägliche Gebet für Sie gen Himmel schicken». Und Liszt würdigte sie nach ihrem Tod 1872 als «eine der reinsten Offenbarungen des göttlichen Segens auf dieser Erde.»

Liszts zweite Liaison verlief glücklicher – und endete bitterer. Sie wuchs sich aus zu einer der berühmtesten Liebesgeschichten der Romantik, und sie war es, die das kleine Örtchen Bellagio auf die Karte der Musikgeschichte brachte. Franz Liszt lernte Marie d’Agoult Anfang 1833 kennen. Die sechs Jahre Ältere galt als eine der vornehmsten Erscheinungen von Paris, väterlicherseits Spross alten Adels, während die Mutter dem Frankfurter Bankhaus Bethmann entstammte. Verheiratet war sie mit einem General. Schon bald trifft man sich häufig und heimlich in Liszts Arbeitszimmer, das beide in ihrer Geheimsprache Deutsch das «Ratzenloch» nennen. Im Oktober 1834 stirbt die sechsjährige Tochter der Gräfin, die sich daraufhin zurückzieht. Liszt fleht sie brieflich an, ihn ein letztes Mal zu empfangen, bevor er Europa verlasse (!). Es kommt zum Treffen, und die Dämme brechen; sie beschließen, zusammenzubleiben.

In Paris zerreißt man sich die Mäuler, und so entscheidet sich das «Skandal-Paar» zum Exil. Es beginnen die «Jahre der Pilgerschaft», «les années de pèlerinage», wie Liszt sie später genannt hat. Mehr als ein Jahr lebt das Paar in Genf, wo die Tochter Blandine geboren wird. Dann reist man wieder hin und her – zu Konzerten, ins Hochgebirge mit Freunden, aufs Land zu George Sand. Ob Liszt auch mit ihr etwas hatte, ist unklar. Flammende Briefe wurden in der Tat gewechselt. Zeittypischer Überschwang? Zumindest versicherte sie ihrem damaligen Liebsten Alfred de Musset: «Wenn ich Herrn Liszt hätte lieben können, so hätte ich ihn rasend geliebt, aber ich konnte es nicht.» Welche Anziehungskraft von Liszt ausging, belegt auch der Ausspruch einer älteren Dame in einem Salon gegenüber Chopin, den Ferdinand Hiller amüsiert zitiert: «Wenn ich jung und schön wäre, würde ich Sie heiraten, Hiller zum Freund nehmen und Liszt zum Geliebten.»

Zeit seines Lebens war Liszt von Frauen umschwärmt, dafür gibt es viele Belege. Für manche Affäre ebenfalls, für viele der ihm unterstellten allerdings auch nicht. Dass Liszt empfänglich für weibliche Schönheit war, zeigen die Notizen über seine Genfer Schülerinnen. Zum Fräulein Demelleyer hält er fest: «Äußerst fleißig, mittelmäßige Begabung, Grimassen und Verrenkungen. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen mit gutem Willen». Im nächsten Eintrag kommt er rascher zum Punkt: «Gambini Jenny: Schöne Augen!»

Nachdem Liszt im März das legendär gewordene Klavierduell mit Thalberg gewonnen und die Gräfin d’Agoult einen viel besuchten Salon geführt hat, verlassen die beiden im Sommer 1837 erneut Paris und landen auf Umwegen in Italiens Musikhauptstadt Mailand. Dort aber ist es Liszt zu heiß, und so sieht man sich nach einem kühleren Ort um. Die Wahl fällt auf Bellagio. Erstes Haus am Platz, wenn nicht gar noch das einzige, ist die Albergo Genazzini, heute Metropole. Den Winter über ist das Hotel geschlossen. Und so zieht unser Paar in die rückwärtig gelegene Dependence, heute ein Wohnhaus, Besuchern nicht zugänglich und angeblich im Inneren nicht original erhalten. Eine Tafel an der Mauer zum Vorgarten ist das Einzige, was heute in Bellagio an Liszt erinnert – abgesehen davon, dass jedes Faltblatt, jede Internetseite Liszt und seine Gräfin rühmt.

Wo sich heute die Touristen, vornehmlich aus Deutschland, England und den USA, tummeln, fanden Liszt und seine Gräfin Ruhe und Erholung. «Was gibt es Schöneres als Sammlung, Arbeit und Liebe?», schreibt Marie in diesen Tagen. «Der Mond zieht auf der Welle eine leuchtende Spur. Sie zittert wie der Glaube an göttliche Dinge in unserer zaghaften und furchtsamen Seele. Von allen Dörfern an diesen Gestaden rufen und antworten sich die heiligen Glocken ... Oh, wie ist doch alles das zu Herzen gehend schön.» Ihre Tage verbringen Franz und Marie mit Ausflügen, Bootsfahrten und Spaziergängen in den Parks der Umgebung. Sein Brief vom 20. September, der, literarisch konzipiert, später in der Revue et Gazette Musicale de Paris erschien, ist eine einzige Schwärmerei: «Vor der ärgsten Tageshitze flüchten wir oft unter die Platanen der Villa Melzi und lesen die Divina Commedia zu Füßen von Comollis Marmorstandbild Dante, geführt von Beatrice» (das noch heute dort steht). In Bellagio komponiert Liszt die Fantasia quasi Sonata Après une lecture du Dante, der Jahre später die Dante-Symphonie folgt.

Liszt ist produktiv, er «bearbeitet mit aller Gewalt ein Wiener Klavier, dem fast alle Saiten fehlen», schreibt die meisten der zwölf Grandes Études und skizziert die drei Petrarca-Sonette. Mit der «Weltvergessenheit» ist es allerdings eines Tages vorbei. «Als ich heute nach meiner Wohnung zurückkehrte, begegnete ich dem Polizeikommissar, der mich begrüßte; mein Wirt erkundigte sich angelegentlich, wie mir mein Mittagessen geschmeckt hätte, und ich beobachtete, dass mein Barbier Gerompino beim Rasieren seinen Seifenschaum mit viel wichtigerer und respektvollerer Miene als gewöhnlich handhabte. Bald fand ich die Lösung dieses Rätsels: Bei Durchsicht der Mailänder Zeitung gewahrte ich, dass mein guter Freund Ricordi, vom Wunsche beseelt, meine Kompositionen, von denen seine Schaufenster voll sind, zu verkaufen, dem glücklichen, aber noch ahnungslosen Italien ankündigt, dass es in mir den ersten Pianisten der Welt beherberge ... Ich habe mir eine Art Popularität errungen, über die Sie sicher lachen werden ... Stellen Sie sich vor, dass ich keinen Schritt tun kann, ohne dass mich alle Kinder der Umgebung verfolgen, umzingeln oder mir vorangehen ...»

Bis Ende November bleiben Liszt und Marie in Bellagio, dann siedeln sie nach Como über, wo am Heiligabend Cosima, spätere von Bülow und Wagner, zur Welt kommt. Kaum hat Marie sich erholt, setzen die beiden, das Kind bleibt bei einer Amme, ihr Reiseleben fort, das sie kreuz und quer durch Norditalien führt. Man bewundert Natur und Kunst, ab und zu gibt Liszt Konzerte, «um das Handwerk nicht ganz zu verlernen». Doch es kommt zu Spannungen. Wo immer Liszt auftaucht, ist er umschwärmt, und Marie überkommt die Eifersucht. Dass das Verhältnis von Anfang an nicht austariert war, deutet eine Notiz der Sand an, als Liszt und Marie 1837 wieder mal in ihrem Schloss Nohant logieren: «Glücklicher Mann, von einer schönen, großmütigen, intelligenten und keuschen Frau geliebt. Was fehlt Dir noch, Undankbarer! Ach, würde ich so geliebt...!» Und Mitte 1838, als Liszt zu Konzerten in Wien unterwegs ist, schreibt ihm Marie: «Ich liebe Sie unermesslich ... Ein Teil Ihres Herzens bleibt bei mir unbefriedigt. Meine Liebe zehrt Sie auf ... Jetzt dauert es schon fünf Jahre, vielleicht ist das genug. Lassen Sie mich meiner Wege gehen. Wenn Sie mich rufen, werde ich zurückkommen.»

Im Mai 1839 wird in Rom ihr drittes Kind, Daniel, geboren, dann trennen sich beider Wege. Es ist ein Abschied im Guten, den sie mit achtungsvollen Briefen besiegeln. «Wie könnte ich sehen, wie diese beiden so schönen und so erfüllten Jahre sich aus meinem Leben lösen, ohne ihnen nachzutrauern? Ach mein lieber Franz!», seufzt sie aus Genua. Und der schreibt zeitgleich aus Venedig: «Hier reden wieder alle Dinge, das Meer und der Himmel, Sankt Marco und die Gondeln, von Ihnen und wiederholen Ihren geliebten Namen.» Marie sammelt ihre Kinder bei den Kinderfrauen ein und nimmt sie mit nach Paris, für Liszt brechen acht Reisejahre als Europas führender Virtuose an. Das Nachspiel ist bitter. Ein Jahr nach der Trennung kommt Liszt wieder nach Paris. Marie und die Kinder begleiten ihn nach England und ins Rheinland, die nächsten drei Sommer verbringt man gemeinsam auf der Rheininsel Nonnenwerth südlich von Bonn. Doch Liszt genießt die Freiheit, wo Marie noch eine gemeinsame Zukunft erträumt.

Als 1844 Gerüchte von einer Affäre zwischen Liszt und der Tänzerin Lola Montez kursieren, bricht die Gräfin endgültig mit ihm. Ihren Frust schreibt sie sich mit einem Roman, Nélida, von der Seele, doch den Racheakt nimmt ihr Liszt nicht krumm. Der Kontakt bleibt freundschaftlich. Böse wird Liszt erst, als Marie 1866 eine Neuauflage dieses aus seiner Sicht verlogenen und «albernen» Machwerks herausgibt. Liszt beschließt sich von falschem «Sentimentalismus» zu befreien, und als die Gräfin 1876 stirbt, findet er nur bittere Worte: «Madame d’Agoult hatte im höchsten Maße eine Neigung, ja eine Leidenschaft für das Falsche – ausgenommen in gewissen Augenblicken der Verzückung, an die sich zu erinnern sie später nicht mehr ertrug.»

Da hat Liszt bereits seine dritte lange Beziehung hinter sich und seinen Frieden mit der Welt gemacht. 13 Jahre hatte er mit der Fürstin Wittgenstein in Weimar zusammengelebt und gehofft, dass der Vatikan die Ehe der gläubigen Katholikin annulliere. Stunden vor der Hochzeit in Rom kam urplötzlich die erneute Verschiebung. Das Paar akzeptierte es als Schicksal. Die Fürstin wandte sich der Theologie zu, Liszt religiösen Werken – und wurde Abbé. Doch sie blieben einander noch 25 Jahre innig verbunden, er machte sie zu einer Universalerbin. Ein Happy End, das der so spektakulären Verbindung mit Marie Gräfin d’Agoult nicht vergönnt war – trotz jener romantischen Monate am Comer See, wo der Mensch, so Liszt, «lieben, vergessen und genießen kann».

Text und Hintergrundbild (Bellaggio am Comer See): Arnt Cobbers