Die permanente Kontrolle über den eigenen Körper ist ein konstitutives Element eines Lebens mit und im Ballett. Dafür schindet man sich von morgens bis abends. Wird diese Kontrolle quasi Bestandteil des eigenen Ichs?
Ja, bis zu einem gewissen Punkt auf jeden Fall. Für junge Tänzer ist es schwer begreiflich, man merkt es erst später: Unser Körper ist unser Ich. Das lässt sich nicht trennen. Wenn jemand sagt – «Anneli, deine Drehung war heute ganz schlecht», dann ist es schwer, das nicht persönlich zu nehmen. Wenn ich ein Pianist bin, kann ich mein Klavier stimmen lassen. Aber als Tänzer habe ich nur mich.
Was heißt das für die Ausbildung?
Ich habe in meinem Dance Science Studium Dinge gelernt, von denen ich dachte und immer noch denke: Hätte ich das alles gewusst, hätte ich es viel einfacher gehabt und beseelter tanzen können. Aber niemand hat mit uns darüber gesprochen. Zum Beispiel über Motivation: Ich habe immer gehört «ihr müsst motiviert sein, ihr seid motiviert». Ich dachte immer, alle Tänzer, alle Schüler sind hoch motiviert. Was eine Voraussetzung für jeden Erfolg ist. Aber es gibt zwei Formen der Motivation. Die meisten Kinder fangen aus Begeisterung an zu tanzen. Das wird intrinsische Motivation genannt. Bei der Aufnahmeprüfung in eine Schule trägt man mit elf Jahren eine Nummer auf dem Trikot und tanzt vor einer Jury. Automatisch kommt der Gedanke: «Bin ich gut? Mögen sie mich? Werden sie mich nehmen?» Die Macht geht auf die Anderen über. Also wird daraus schnell eine extrinsische Motivation – und das geht Tänzern ein Leben lang so. «Mag mich mein Lehrer? Mag mich mein Lehrer nicht?» Man verliert Autonomie. Und möglicherweise dann auch die Freude am Tanz, denn der Verlust an Autonomie macht etwas mit einem. Die Wahrnehmung und das Bewusstsein dieser Zusammenhänge können helfen, gegenzusteuern. Wenn ich weiß, dass ich so viel Wert darauf gelegt habe, was andere denken und dass ich deshalb meine Freude am Tanz verliere und wenn ich zugleich die psychologischen Tools habe, um damit umzugehen, dann kann ich reagieren und mir selbst helfen.
Erinnern Sie solche Momente aus Ihrer eigenen Laufbahn?
Absolut, es gab Tage, da dachte ich: «Komisch, ich liebe es zu tanzen, aber heute habe ich überhaupt keine Freude daran. Heute will ich nicht auf die Bühne. Was denkt der Ballettdirektor, was denken meine Kollegen? Was denkt das Publikum? Werde ich besetzt? Wer kann das durchhalten?» Wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren, warum wir eigentlich tanzen. Dann ist es einfacher mit den Begleiterscheinungen umzugehen. Mit der Müdigkeit, mit den Schmerzen. Die gehören schon zu diesem Beruf. Aber auch da können wir etwas verändern, können das Ich resilienter machen. Zum Beispiel, wenn jemand nach der Vorstellung sagt: «Das war heute keine sehr gute Vorstellung». Bevor ich Zweifel und Frust erlebe, kann ich mich selbst fragen, ob das gut war, was ich geleistet habe. Aber über dieses Feedback an die eigene Person wird nicht viel gesprochen, und viele Tänzer leiden darunter.
Was ist mit persönlichem Coaching?
In jedem Berufsfeld gibt es jetzt Coaches, psychologische Beratung, professionelle Unterstützung. Im Sport steht ein Team hinter dem Sportler und kümmert sich. Warum nicht bei uns? Wir gehen auf die Bühne, sind ständig unter Druck. Viele leiden unter «performance anxiety». Wenn man das nicht in Griff kriegt, kann es einen ungemein quälen. Dabei ist der Beruf doch eigentlich so schön. Es ist nach wie vor mein Traumberuf, und ich würde es auch noch mal machen – aber man könnte viele Tänzer so viel glücklicher machen. Nicht auf Kosten der Qualität, sondern man bekäme im Gegenteil gesündere und bessere Tänzer. Es herrscht viel zu viel Angst von Kindesbeinen an. Burn-out, Depressionen ... Es gibt Statistiken, die zeigen, wie vielen Tänzern es nicht gut geht – wirklich erschreckend.
Das gesamte Interview von Claudia Henne lesen Sie im Jahrbuch tanz 2022
(Portraitfoto: Carlos Collado)