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Magisch und strahlend

In memoriam Margit Carstensen

Als ich ihr zum ersten Mal persönlich begegnete im Schauspielhaus Bochum, wo wir beide 1995 zusammen mit dem neuen Intendanten Leander Haußmann gerade angefangen hatten, war ich aufgeregt; ich kannte sie bisher nur von der Leinwand. In allen meinen Lieblingsfilmen von Fassbinder hatte sie mitgespielt. Mit ihrem Auftauchen im Fassbinderkosmos Anfang der 1970er Jahre veränderten sich dessen Filme deutlich, von den proletarischen Sozialdramen seiner frühen Jahre wechselten sie ins Melodramatische und elegant Verzweifelte, allerdings ohne ihre Bösartigkeit zu verlieren. Man könnte meinen, durch ihre bloße Anwesenheit vor der Kamera bekamen seine Filme plötzlich etwas Glamouröses, großes Kino, raus aus der «Schmuddelecke». Es sah damals so aus, als habe Margit Carstensen den ganzen Fassbinderkosmos verwandelt. Sie wirkte unnahbar und durchlässig zugleich, äußerst fragil und stark, mit einer inneren Kraft ausgestattet, die man sich nicht im Fitnesstudio antrainieren kann.

Das war in «Die bitteren Tränen der Petra von Kant» alles schon sichtbar. Der Film war mit weiblichen Protagonisten besetzt, die, ohne es zu wissen, Fassbinders eigene homosexuellen Beziehungen nachspielten, die man heute als toxisch bezeichnen würde. Und Margit war dabei Fassbinder. Und auch in dessen film noir «Martha», wo sie sich als überangepasste, unterwürfige Titelheldin zuerst von ihrem Vater und dann von einem narzisstischen Ehemann terrorisieren lässt, war ihre Power nicht kaputtzukriegen, nicht mal am Schluss, als sie querschnittsgelähmt durch den Krankenhausflur gerollt wird. Doch für mich war sie am eindrucksvollsten in «Chinesisches Roulette». Der Anfang dieses Films gehörte ganz allein ihr und ihrer halbwüchsigen Filmtochter. Sie hörten gefühlt acht Minuten lang Gustav Mahlers 8. Sinfonie, sonst geschah fast nichts. Aber dieser Auftritt und alle folgenden waren so magisch und strahlend. Für mich unvergesslich.

Den gesamten Beitrag von Carl Hegemann lesen Sie in Theater heute 8-9/23