
Geschützter Ort
Die Mezzo-Sopranistin Rachael Wilson
Sie müssten eigentlich froh sein, in einem Ensemble wie an der Stuttgarter Oper gelandet zu sein – in Zeiten, die sehr problematisch geworden sind für Künstlerinnen und Künstler. Hatten Sie zuvor den Wunsch, als Freelancerin zu arbeiten?
Ich bin über alle Maßen dankbar, in diesem Ensemble zu sein – gerade vor dem Hintergrund der vergangenen beiden Jahre. Ich bekomme ja viel mit vom Kampf, den Freelancer gerade bestehen müssen. Finanziell, aber auch, weil sie im übertragenen Sinne kein sicheres Heim haben. Dieses Sicherheitsgefühl ist sehr vielen verloren gegangen. Und das wirkt sich nicht nur auf die persönlichen Verhältnisse, sondern auch aufs Künstlerische aus. Stuttgart ist der Pandemie sehr stark begegnet. Das Haus hat sich nicht einfach zurückgezogen, sondern mit besonderen Formaten versucht, das Beste aus den schwierigen Monaten zu machen. Man blieb auf diese Art immer mit dem Haus verbunden, es war noch da für einen. Das hat sehr geholfen und war gesund für mich. Als ich zum ersten Mal nach Stuttgart kam, nach meiner Münchner Zeit, da dachte ich mir: Okay, hier bleibst du ein bisschen, erweiterst dein Repertoire, und dann machst du dich selbstständig. Jetzt sage ich mir: Es ist wichtig, Rollendebüts an einem so geschützten Ort wie hier zu haben und dann damit nach draußen zu gehen. Meine Haltung gegenüber einer Freelancer-Karriere hat sich sehr verändert. Es ist die bestmögliche Situation für mich.
Wie riskant war es, zu einem frühen Zeitpunkt Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper zu sein? Danach konnten ja so viele Häuser nicht mehr kommen ...
Ich habe damals nicht so gedacht. Ich war zunächst im Münchner Opernstudio und sehr glücklich, auch darüber, wie ich unterstützt wurde und welche Möglichkeiten ich hatte. Es lief von Anfang an auf einem hohen Level für mich: erst Juilliard School, dann Opernstudio, dann Münchner Ensemble. Es war unglaublich. Ich würde es genau so wieder machen. Aber ich merkte: Es ist nun Zeit für mich, an ein etwas kleineres Haus zu gehen, wo es etwas weniger grelles Rampenlicht und etwas weniger Druck gibt. An der Bayerischen Staatsoper sind Stars Normalität, von denen man sehr viel lernen kann. Sowohl unter den Sängern, als auch unter den Dirigenten. Wer will nicht mit Kirill Petrenko arbeiten? Es ist der perfekte Ort, um sich zu entwickeln. Aber man ist auch unter besonderer Beobachtung. Ich will das nicht missen – es war das Beste, was mir passieren konnte.
Fühlen Sie in Stuttgart demnach weniger Druck?
Es ist eine andere Art von Druck. Zuerst gab es den Druck der Lehrer, dann diesen besonderen Aufmerksamkeitsdruck an der Bayerischen Staatsoper. Und jetzt stehe ich unter meinem eigenen Druck. Außerdem hat sich das Repertoire verändert. In München habe ich wunderbare Partien gesungen, aber eben kleinere. Und jetzt darf ich Hauptrollen wie die Juditha interpretieren. Ich bin, und damit kokettiere ich nicht, mein größter Kritiker. Aber das ist wichtig für die persönliche Entwicklung: nicht nur auf andere hören. Ich kenne nun meine Grenzen und die Bereiche, in denen ich mich entwickeln kann. Das bringt mich hier gut voran.
Das gesamte Interview von Markus Thiel lesen Sie in Opernwelt 8/22