Der Tiger und die Angst
Ein Gespräch mit der Regisseurin Sandra Leupold
Was unternehmen Sie, wenn, sagen wir, ein stimmgewaltiger Tenor vor Ihnen steht und sagt, er sei anwesend, um schön zu singen, nicht, um wahrhaftig zu spielen?
Vielleicht kommt es dann zu keiner besonders geglückten Zusammenarbeit – er wird ja schon eine Weile mit dieser Haltung unterwegs sein. Ich kann ihn sogar verstehen, diesen fiktiven Tenor. Was er kann, ist so besonders, und was er als Sänger meint, «liefern» zu müssen, so unendlich kompliziert herzustellen, dass er sich die Regie vielleicht verständlicherweise vom Leib halten möchte. Ich bin aber jedes Mal glücklich, wenn Sänger erst durch das Spielen einer Szene gesanglich richtig zu sich kommen. Wenn sie merken, wie sehr eine Szene beim Singen helfen kann, wenn sie denn von der Musik her gedacht ist. Ihrem Tenor würde ich die Angst gerne nehmen und ihn dazu verführen wollen, sich dieses Vergnügen nicht nehmen zu lassen. Dem Publikum ist sowieso klar, dass nicht das Singen das Eigentliche und die Szene die Zugabe ist. Es wird den Sänger auf Händen tragen, der für eine szenische Wahrheit mit seinem ganzen Sein, also auch gesanglich, an Grenzen geht. Dabei denke ich eher an ein kostbares, extrem gefährdetes Pianissimo an der Absturzkante als an lautstarke «action» – die vielleicht nur da ist, damit bloß nicht nichts ist. Ich glaube, die Angst vor dem Nichts gibt es auch in der Oper. Auch musikalisch – als Angst vor der Pause.
Ist es eine menschliche Angst?
Es ist die Angst vor dem Dunkel, vielleicht die Angst davor, der Tiger könnte hinterm Gebüsch hervorkommen.
Der Tiger ist nicht da ...
... aber wer sagt uns, dass er nicht da ist? Da gibt es etwas, was mächtiger als unser kognitives Denken ist.