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Ein Schauspieler als Kunstkraftwerk

André Kaczmarczyk

Von Andreas Wilink

«Irrsinn» schreibt er im Mail-Austausch, mit dem wir versuchen, eine Verabredung zu treffen. «Irrsinn» – das ist André Kaczmarczyks «Wahnsinn», wie ihn Botho Strauß’ Lotte Kotte (natürlich im Tonfall der Edith Clever) in der Begegnung mit sich und der Welt ausrief. Ist bei ihm Synonym für die Euphorie, das Limit zu überschreiten, für die Beschreibung seines Alltags, den er durch die Optik des Aberwitzes filtert. «Irrsinn» das Proben-Programm und Vorstellungs-Pensum am Düsseldorfer Schauspielhaus: als Kästners sachlich und wie verwundert über sich selbst zu Grunde gehender Fabian, flink und agil im Pop-System von Rainald Goetz’ «Jeff Koons», auf Plateausohlen im Glamrock-Feeling des David-Bowie-Musicals «Lazarus» und ruppig-rockig als Camus’ existentialistischer «Caligula». Manchmal zweierlei nebeneinander im Proben-Schleudergang. Manchmal auch mit verrenktem, gezerrtem Nacken nach einem Bühnen-Sturz zu Neujahr. Den Knacks steckt er weg wie nix. «Ach, das ist der nette junge Mann, der manchmal singt im Treppenhaus», sagt eine Nachbarin im Flur, während ich suchen muss, um ihn zu finden. Denn ein Namensschild gibt’s noch immer nicht. Als Adresse reicht ihm vermutlich auch: Düsseldorfer Schauspielhaus.

Die innere Uhr bleibt eingestellt auf die Taktung Vorher/Nachher von Probe, Produktion, Premiere – sie lief von Herbst 2017 bis Frühsommer 2018 ohne Pause. Während dieses knappen Jahres summiert sich eine Reihe von Treffen mit ihm zu einer Art Langzeitbeobachtung. Der Dauereinsatz wirkt an anderer Stelle absorbierend, in dem das Spielen dem Leben außerhalb des «Planquadrats», wie der Düsseldorfer Gustaf Gründgens es gern nannte, den Rang abläuft. Leicht zerstreut bucht Kaczmarczyk den Rest unter Sonstiges ab. In der zu Ende gehenden Spielzeit wurde er mit vier Produktionen in Folge als beflügelter Hermes zum Liebling und Identifikationsträger des Publikums.

Auf dem Sprung. Solange einer rennt, ist er gerettet. Das Unruheprinzip setzt Kaczmarczyk als physischen Spirit auf der Bühne um, mal schmal, mal ganz groß, als Gemütsgeste oder im Katastrophen-Rausch. So, wenn er als «Fabian» anfangs selbstversunken tänzelt, als wolle er die Schrittfolge erst testen, bis zum Ende in den Ausbruch der totalen Tanzwut. Im rein Körperlichen kann eine Menge Psychologie stecken. 

Die Offenheit und zugewandte Verbindlichkeit, mit der André Kaczmarczyk die Einladung zum Gespräch annimmt und sich darauf einlässt, täuscht nicht darüber hinweg, dass sich jemand unter Verschluss hält. Hermetisches Verhalten gehört zu seinem Naturell: «Ich bin tendenziell eher asozial.» Das koboldhafte Vergnügen, Appetithappen etwa von der Kunst-Society und ihrer Amüsierbetriebigkeit aufzuschnappen, spricht nicht dagegen, bestätigt eher noch die Grundhaltung, passager und auf Stippvisite zu sein.

Im Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses, wohin er 2016 mit dem ihm lange verbundenen Wilfried Schulz aus Dresden kam, geriet Kaczmarczyk schnell in den Blick: unabhängig von der Qualität einzelner Inszenierungen, gelegentlich im Kontrast zu ihr. Als Graf Wetter in Kleists Rittertraum «Käthchen» wirkte er noch im rüden Wüten zartbesaitet und somnambuler als selbst das Käthchen und als sei der träumende Prinz von Homburg  vorgebildet. Als Waldkind Enkidu im «Gilgamesch-Epos» ließ er einen filigranen Charakter sehen, der dem grobkörnigen Sandkasten-Spektakel ein feingeschliffenes Element beigab. Kein Erdenkloß und Muskelprotz, wie in dem Ur-Stück vorgedacht, war Kaczmarczyk unwissend wie Parsifal und unschuldig wie Mowgli. Ähnliches galt in Dostojewskis «Der Idiot» (Regie: Matthias Hartmann) für seinen Fürsten Myschkin. Wenn er anfangs einen spärlichen Kleiderbeutel bei sich trägt, ihn an sich drückt wie ein Kind sein Lieblingsstofftier, während ihn der Zug aus dem Schweizer Kuraufenthalt nach St. Petersburg zurückbringt, schrumpft der Moment auf Robert-Walser-Format. Ein Mensch, der sich zum Verschwinden bringen möchte. Er sah danach aus, als würde für ihn die Salonwelt – laut, rabiat und vulgär – in eine Nussschale passen.

«Zurückhaltung» sei ein Wort, das er mag, sagt André Kaczmarczyk, nachdem die Premiere des Power Play «Caligula» hinter ihm liegt. Er schätze es als Eigenschaft auch bei anderen: nicht alles preisgeben, nicht alles beim Namen nennen, Abstand wahren. Den Vorrat anzapfen, ohne ihn zu plündern. Parallel dazu und zu seiner Rolle als Myschkin lässt sich etwas aus dem «Idiot»-Monolog der Ingeborg Bachmann lesen, den die Dichterin für ihren Lebensfreund Hans Werner Henze als Libretto geschrieben hatte: «Jedem meiner Augenblicke zähle ich einen fremden Augenblick zu, den Augenblick eines Menschen, den ich in mir verborgen trage zu jeder Zeit ...» Die Möglichkeit also, Doppelagent seines eigenen Lebens zu werden.

Eindeutigkeit – etwas, das vielen als Stabilisierung in ihrem Leben gilt – sieht Kaczmarczyk für sich als «Beschränkung» und darin überhaupt – auch entlang von Diskursen der Gender-Theorie – «Fiktion und Konstruktion». Feste Umrisse aufzulösen, ist ihm Lustprinzip. Es will ihm nicht in den Kopf, dass das, was er als erweiternd betrachtet, der common sense eher als Irritation, als Anstrengung, gar als bedrohlich wahrnimmt: für sich selbst und bei anderen. Für das neue Spielzeitheft wollte er sich in der Maske von Shiva, der hinduistischen Hauptgottheit des schöpferischen Neubeginns, porträtieren lassen. Scheinbar feststehende Muster auf den Kopf und wieder zurück auf die Beine stellen: etwa als sie mit Tilman Köhler in Dresden für Shakespeares «Kaufmann von Venedig» die Frauenrollen mit Männern (er als Shylocks Tochter Jessica) besetzt hatten; noch im Rückblick begeistert er sich für die Aufführung.

Kaczmarczyk geht nicht in Deckung, will «Reibung, Sprengstoff»: «Es muss keine Arbeitsgefährdung bedeuten, wenn man sich streitet.» «Erregung ist ein angenehmer Zustand und bringt das lahme Blut in Gang», sagte Thomas Bernhard in einem Interview, das Kaczmarczyk parat hat. Man müsse «ausblenden» können, wenn’s auf den Proben mal knirscht und das «Messer aufspringt», müsse sich anders und auf sich konzentrieren. «Juckeln kann ich nicht.» Meint: sich bei einer Produktion innerlich aus dem Staub machen. Sich routiniert einzurichten, käme Kapitulation gleich. Die Offensive gilt auch im Persönlichen: Reaktion provozieren, in Konfrontation gehen. Als Camus’ Caligula spielt er das aus. Dazu später. 

Über die rheinisch-westliche, etwas breitbeinige Mentalität und Selbstgewissheit kann sich André Kaczmarczyk, der aus Thüringen stammt, immer noch wundern. Das Ostdeutsche ist einsilbiger. Es habe gedauert, bis in der Dresdner Bäckerei mal jemand ein Wort gesagt habe, dass übers Verkaufen hinausging. In Düsseldorf sei man schon am ersten Tag gewissermaßen per Du. Kann auch etwas für sich haben. Sein spöttisch taxierender Humor, der Manieren, Manien und Nuancen scharfstellt, ist vermutlich auch Resultat gut ausgebildeter Überlebenstechnik. Das leichte Geschütz des «Schalks», wie er sagt, im Kampf und Krampf. Auf seinen Safaris durch Düsseldorf hat er die eine, gut situierte Perspektive vor Augen, blendet aber die andere nicht aus, zumal die auch an den Theateralltag gerückt ist: das schäbige Umfeld in der Ausweichspielstätte Central, die baulichen Bedingungen hinter den Kulissen. Was nicht heißt, dass er es sich bequem wünschte. Aber es geht ihm – und nun spürt man eine gewisse Gereiztheit – um angemessene Arbeits-Atmosphäre, Fürsorge-Pflichten, ein Klima von Respekt, das Gefühl, nicht nur in der Materialverwertung tätig zu sein.

Juli 2017. Es ist heiß. Wir sitzen in Eisenach am Karlsplatz mit seinem Luther-Denkmal. Er wundert sich aus dem Abstand seltener Besuche hier, wo er groß wurde, dass es «so alt  und leer» aussieht. Zitiert die Heilige Elisabeth und den Reformator mit deren Urteil über die bedrückend geistige Enge ihrer Untertanen und Mitbürger. Der 1986 in Suhl Geborene resümiert nach einer Weile seine Jugendjahre: «Ich dachte, ich bin falsch.» Doch hat er die lange für ihn geltende Überzeugung ins Positive gewendet und nach einem Prozess der «Entunterwerfung», wie Michel Foucault es nennt, offensiv umgemünzt: «Okay, ich bin falsch!»

Am Fuß der Wartburg warten wir auf den Bus. Gegenüber liegt das Café Balance: Treffpunkt für Kaczmarczyk und «alle anderen Misfits und Ausgestoßenen» während der abgewickelten frühen Neunziger. Abgewickelt worden war auch die Schauspielsparte am Eisenacher Theater. Auf dem Mälzerei-Gelände gründete sich die Gruppe «Freies Eisenacher Burgtheater», die viel Jugendarbeit machte. «Das war meine Rettung.» Wovor? Vor den «dunklen Jahren» in der Familie. «Bei uns hat man weggeguckt.» Etwa, wenn er blaue Lackschuhe aus dem Fundus trug. Immerhin, man habe es «zugelassen», seinen Ich-Entwurf hingenommen.

Der aus Polen stammende Vater war irgendwann zurückgegangen. Nach der Trennung der Eltern fand die Mutter jemand anderen. Andrés Stiefvater – «eine typische DDR-Nachwende-Absteiger-Geschichte» – ertränkte den Verlust der Selbstachtung in Alkohol und kompensierte Frustrationen durch Gewalt. Opfer war der Halbwüchsige, scheinbar Idealbesetzung für die Rolle des schwarzen Schafs. Was Klassen- und Milieu-Zugehörigkeit mit einem anstellen, habe er wiedergefunden in Didier Eribons vieldiskutiertem Buch «Rückkehr nach Reims», der Schilderung einer Fortbewegung, die Kaczmarczyk für sich vollzog, aus lebensbejahendem Instinkt und Notwendigkeit. Nie mehr «zurückgebombt» werden in ein Niemandsland, das Zwischenzustände verpönt. Als wir im Hof der Wartburg stehen, wo Luther Schutz fand vor dem Zugriff des Kaisers, stellt er einen Vergleich an. Luther sei in seine Schulstadt Eisenach «zurückgekehrt als Kunstfigur, verkleidet als Junker Jörg»: «Verstellung und Verwandlung» seien für ihn eine Schlüsselerfahrung. 

Einerseits sagt Kaczmarczyk, der Pathos mit einer Volte gern abwürgt, er hasse es und fände es uninteressant, «den persönlichen Käse in die Arbeit zu nehmen». Doch ist er sich selbst gegenüber aufrichtig genug, um zu wissen: «Man schleppt ja doch die Päckchen mit, ob man will oder nicht.» Es bleibt ein entzündlicher Prozess.

Herbst 2017: Ein paar Wochen vor der Premiere trägt Kaczmarczyk die Textfassung zu Erich Kästners «Fabian oder Der Gang vor die Hunde» in der Tasche, als wir uns im Düsseldorfer Ehrenhof verabreden. Wenig mehr hat Raum als sein Sortieren der Figur, das Ausloten des Charakters, skeptische Überlegungen zum Autor wegen dieser und jener Buchstelle. Und so sieht es dann im Ergebnis aus: Kaczmarczyk groovt sich ein, schlackert sich locker, wippt rhythmisch, gleitet auf der Begleitung der Drums geschmeidig ins Stück hinein, das hier «Tanz den Erich Kästner» heißen müsste. Im Vorschein der Nazi-Diktatur, wo das Ich nicht und nichts mehr sein soll und das Wir alles, ist Dr. Jakob Fabian Individualist und kaum der Zukunft zugewandt. 1931 erschienen, ist die lakonisch erzählte Geschichte Zeit- und Großstadt-Roman, Liebes- und erotischer Untergangs-Roman, unsentimental, aber sehnsuchtsvoll, von amoralischer Moralität und mit todernstem Witz, der «das tägliche Pensum» Welt repetiert, wie Fabian es sich aus den Journalen liest. 

Nico Stallmanns Schlagwerk gibt den Takt vor zu Bernadette Sonnenbichlers Inszenierung, die unbedingt die Revue aus dem Roman blättern will und doch über Leichen gehen muss. Über Fabians Freund Labudes Leiche, über Fabians Leiche, der am Ende ertrinkt und hier ins schwarze Nichts springt. Die Liebe stirbt auch, und die Zeit ist sowieso verwest. Kaczmarczyk zieht die halb verträumte, halb verzweifelte Nonchalance des Fabian lässig zu sich heran. Bis es richtig weh tut, während um ihn her alles in die Binsen geht. Das Schluss-Solo bildet den schneidenden Kontrast zu der hyperaktiven Bewegung, in die hinein sich das nervöse Hemd schlakste. Fabian elektrifiziert sich hinein in den Ausnahmezustand – fast ein verhetzter Woyzeck. Der Mut zum Sprung in die Grundlosigkeit, der für Fabian gilt, ist seinem Darsteller aus der eigenen Biografie nicht unbekannt. 

Das Musikalische liegt ihm. Die Revue «Heart of Gold», die den Fetisch Geld gegen Glück und Liebe in Songs abwiegt, entstand unter seiner Leitung mit acht ebenfalls fabelhaft singenden Kollegen und drei Musikern und ist in Düsseldorf ein ähnlicher Publikumsmagnet wie «Der Sandmann» und «Lazarus». Während die Übrigen Groß-Hymnen des Pop anstimmen, dosiert er sich sparsam vom Barhocker aus mit einem leisen Song aus dem Disney-Musical «Arielle» Richtung campy. Sozusagen eine Stil-Blüte. 

Erfahrungen dieser Art konnte er auch bei Robert Wilson sammeln («der weiß, wovon er spricht, zumal er selbst performt»). E.T.A. Hoffmanns Spukgeschichte vom «Sandmann» war 2017 als finster gefärbtes Musical bei den Ruhrfestspielen herausgekommen als Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Nun lässt sich im ballettösen Scherenschnitt-Format der Arabesken, des Gellens und Girrens, der Grimasse und des Grotesken jenseits von formaler Exaktheit und artifizieller Akkuratesse nicht viel einbringen. Die Maske regiert, selbst noch, wenn Kaczmarczyk als gestriegeltes Ungeheuer, das den Menschen die Nachtruhe raubt, zwei Augäpfel wie herausgepickte Trophäen in der Hand wiegt. 

Das Motiv Geld und Glück, erweitert um Kommerz, Kreativkrise, Kunstevent, bestimmt auch sein zweites eigenes (Regie-)Projekt. Spielort für «Jeff Koons» von Rainald Goetz in seinem bezwingenden Sprechsound ist ein privates Sammlermuseum in Düsseldorf-Flingern. Kaczmarycyk, der neben seinen pastellfarben kostümierten Partnern selbst entscheidende Parts spielt, legt das Künstlerdrama offen. Entertainend und animierend wieselt er  umher, um dann jedoch zu zeigen, dass Irre-Sein und Ekstase nur ein anderer Ausdruck sind für Verzweiflung und Verneinung, und ins «Bergwerk der Seele», wie Goetz es nennt, hinabzusteigen. Der dritte eigene Abend wird bereits vorbereitet, wieder musikalisch und die Behauptung umspielend, dass «Boys don’t cry and Girls wanna have fun».

Und der Tanz geht weiter – in dieser Richtung soll noch einiges folgen. Ruhepausen verschmäht Kaczmarczyk eh. Mokiert sich über «Schauspielbeamtentum» und tut es für sich selbst ab: «wenn ich das Wort Ruhezeit schon höre». Er schwärmt von der amerikanischen Choreografin Bridget Petzold, mit der er für das Musical «Lazarus» gearbeitet habe und die ihn weiterhin unterrichte. In der Bowie-Revue rollt sie ihm den Teppich aus, auch wenn er nur als «next performer» auftritt. Durch das von Matthias Hartmann etwas bräsig bombastisch inszenierte Drama-Songbook entlang des Films «Der Mann, der vom Himmel fiel» mit Bowie als Außeririscher (Libretto Enda Walsh) geistert Valentine, mörderisch sanfter Luzifer und Verführer im funny game Liebe. Bei Kaczmarczyk ist der ein biegsamer Master of the Ceremonies, vampirhafter Lady- und Boy-Killer in slow motion und schwarz gefederte Diva, die frivol funkelt und sarkastisch verglüht. 

Ebensolche negative Energie pulsiert durch Kaczmarczyks Caligula, inszeniert von Sebastian Baumgarten. Im Schizo-Storm quer durch die eigenen inneren Konfliktzonen irrlaufend, ist er zunächst verstörtes enfant sauvage und Purzelbaum schlagender Fant. Als Reality-Agent provocateur, der nach dem Andreas Baader in sich fahndet, wischt er unwirsch das Bild vom dekadenten römischen monstre sacré beiseite. Zieht nervös an der Zigarette, mampft Spaghetti, verzärtelt seine Roheit, rollt die Schultern, serviert speckigen Eintopf auf einem Camus-Buchschinken, uniformiert sich trashig mit Springerstiefeln, bemalt sich zur Fetischpuppe einer schwarzen Venus, tanzt ballettös zu Nino Rotas Titelmelodie des «Paten» und höhnt im Gossen-Charme. So dreht er an seinem Uhrwerk Orange. So schlägt er auf Baumgartens Kopfbühne mit ihren gestapelten Metaebenen auf und federt Schmutz aufwirbelnd von ihr ab.

Nachdem Kaczmarczyk zuhause ausgezogen und das Abitur gemacht war, bewarb er sich an der Ernst-Busch-Schule in Berlin. «Den Beruf wie ein Handwerk lernen», wollte er. «Nicht, um sich selbst zu finden. Es ging um das, was du nicht bist, um sich daran zu wagen». Im Stillen dachte er: «Hier in der Schule ist so ein bisschen die strenge russische Ballett-Lehrerin zu Hause. Mich hat das nicht abgestoßen. Ich wollte diese Formung bei Rundumbetreuung. Vielleicht auch, um sie zu unterlaufen oder anders zu verwenden. Der Vorwurf ist ja oft, die ‹Buschis› seien nicht heiß genug als Schauspieler.» Virtuos, versiert, perfekt. «Dir wird ein gewisser Kampfgeist antrainiert und Kondition.» Lachend setzt er hintan: «Letztlich auch eine Fabrik mit der jährlichen Produktion von Schauspieler-Brötchen.» 

Er habe «ganz viel gelöscht von damals», sagt er im Nachdenken über die Ausbildung. Die prägende Zeit habe eigentlich davor gelegen, in den Eisenacher Spielgruppen: «das Soziale, die Weltflucht, die Spiellust». Der Absolvent (2009) traf die etwas überraschende Entscheidung, zunächst frei zu arbeiten, ohne sich gleich fest zu verpflichten. Dann ging er nach Dresden. Wenn er die Zeit dort resümiert und seine Erfahrung, ist ihm nicht so sehr die einzelne Arbeit am Staatsschauspiel wichtig, mehr sind es «die Mechanismen der Interaktion: sich selbst als Schauspieler-Person kennenzulernen, zu lernen, was du sagst – und was nicht, wann es gut ist, zu provozieren, Kräfteverhältnisse einzuschätzen ...»

Kaczmarczyk fühlt sich nirgends recht heimisch: nicht im provinziellen Thüringen und Sachsen (in Dresden habe er viel Herzenswärme angetroffen, auch wenn ihm die Stadt vorkam «wie eine Tante, zu der man zum Kaffee geht»); nicht am Studienort Berlin, das ihm heute mehr als damals, entsprechend Kästners Fabian, als «Rummelplatz» erscheint; nicht in der in ihrer bundesrepublikanischen Nachkriegs-Moderne nahezu störrisch verharrenden Klein-Großstadt Düsseldorf.

Im vergangenen Sommer ist er, wie des Öfteren, in Holland gewesen und auch durch Haarlem geschlendert, wo Irrenhaus, Freudenhaus und Bethaus nah’ beisammen stünden, wie er erzählt. Ob das Theater nicht auch in diese Nachbarschaft passt? Der Außenblick des duldsamen Spötters ist ihm dabei zu eigen: «Genaues Betrachten feiert ja auch das, was ist – ohne Urteil.»