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Jeder springt für sich allein

Johannes Kram über Homophobie in Theater, Film und Fernsehen

Eines von vielen schiefen Bildern in dieser Sache, in der es nur schiefe Bilder zu geben scheint: Es ist wie beim Sprung vom Zehnmeterbrett. Die, die gesprungen sind, bereuen nichts; sie wissen, dass es nicht weh tut, oder dass das, was da wehgetan hat, es allemal wert war. Die, die gesprungen sind, erzählen jedem: Wie toll das ist und letztendlich doch so einfach. Man muss sich einfach nur trauen. Denen, die nicht springen, die oben stehen bleiben und dann irgendwann wieder unverrichteter Dinge über die Leiter nach unten steigen, nützen diese Beteuerungen nichts. Denn die, die es geschafft haben – ja es geht um das Coming-Out, hier vor allem von dem schwuler Männer –, die können nur von und für sich sprechen, auch wenn sie behaupten, dass es nicht nur für sie, sondern auch für die andern doch so einfach wäre. Jeder springt für sich allein. Und im Blick nach unten tun sich immer noch Abgründe auf.

Spätestens seit der «Ehe für alle» scheint es so, als sei Homophobie in Deutschland ein Thema von gestern, oder doch eines, das nur noch bei den Ewiggestrigen oder neuen Rechten vorkomme. Das ist nicht so. Nach wie vor ist die «schwule Sau» eines der beliebtesten Schimpfwörter an deutschen Schulen. Die Wahrscheinlichkeit, dass queere Teenager sich aufgrund des gesellschaftlichen Drucks umbringen oder dass sie zumindest daran denken, ist um ein Vielfaches höher als bei ihren heterosexuellen Altersgenossen. Auch wenn Homophobie in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr so laut artikuliert wird, auch wenn fast jeder und jede von sich behauptet, nichts gegen Homosexuelle zu haben, so ist Homophobie doch allgegenwärtig. Nur eben diffuser: Die Homosexuellenfeindlichkeit von heute beharrt auch ihre Homosexuellenfreundlichkeit. 

Tatsache ist: Nur ein Drittel aller LGBTI*-Beschäftigten ist out am Arbeitsplatz. Das ist nicht nur ein Drama für die, die glauben, sich verstecken zu müssen. Das ist auch ein Drama für eine Gesellschaft, die sich allenthalben frei dünkt und liberal verortet, die stolz auf ihre aufgeklärte Kulturlandschaft ist, auf ihre kulturellen Institutionen und ihren Diskurs in den dem Gemeinwohl verpflichteten öffentlich-rechtlichen Strukturen. Aber einer der weltweit größten gesellschaftlichen Emanzipationsprozesse der letzten 20 Jahre wurde von Kulturdeutschland weitgehend ignoriert. Dass Homophobie kaum ein Thema ist und auch, dass die «Ehe für alle» in Deutschland so viel später kam als in den meisten anderen vergleichbaren westlichen Demokratien, hat damit zu tun, dass sich Kulturdeutschland nicht zuständig fühlte oder sich weigerte, die Diskriminierung Homosexueller überhaupt noch als ein Problem zu sehen.  

Anders in anderen Ländern, allen voran den USA, wo die Frage der Emanzipation und Gleichstellung Homosexueller als eine gesamtgesellschaftliche und auch kulturelle Herausforderung betrachtet wurde, als eine grundsätzliche Menschenrechtsfrage, die jeden etwas anging. In Deutschland wurde sie vor allem als Minderheitenthema, als eine Frage des Lifestyles oder, noch schlimmer: als eine Art Luxusproblem verhandelt. Die Kulturschaffenden hierzulande waren wohl so überzeugt davon, auf der richtigen, auf der aufgeklärten Seite zu stehen, dass sie nicht auf die Idee kamen, sich bewegen zu müssen.

Auch das Theater in Deutschland hat diesem Thema kaum einen Raum geboten hatte, obwohl der Schauspielerberuf seit je ein Zufluchtsort für Homosexuelle war und ist, obwohl Schwule selbstverständlich vor und hinter den Kulissen ihren Platz haben. Doch der Vorteil eines Schutzraumes ist auch sein Nachteil: Die in ihm eingerichteten Nischen sind zwar bequem, aber nicht besonders elastisch. Klischees werden konserviert, alte Rollenzuschreibungen, auch Selbstbilder werden nicht in Frage gestellt.

Während im Inneren der deutschen Theater halbwegs offen schwul lebende Schauspieler kein Problem sind, gibt es dort kaum aktuelle queere Stoffe. Bei Kino- und Fernsehfilmen ist es eher andersrum. Hier gibt es weniger Probleme mit schwulen Geschichten und Figuren, wohl aber mit halbwegs offen schwul lebenden Schauspielern.

«Ich frage mich wirklich, wie die nachkommenden Generationen queerer Menschen aufwachsen sollen. Alle queeren Jugendlichen müssen ihr Coming out meist nach wie vor 'planen'. Sie haben praktisch noch immer keine role models», schreibt der schwule Regisseur Kai S. Pieck in einem Rundbrief an «Liebe queere Kolleginnen & Kollegen». Er fordert mehr Präsenz homosexueller Künstler auch im Film und versucht gerade, einen queeren Zusammenschluss zu initiieren, der zwar nicht das Ziel einer Quote hat, aber am Modell der Frauenbewegung «Pro Quote Medien e.V.» ausgerichtet werden könnte. Er kritisiert zum Beispiel, dass «heterosexuelle Schauspieler*innen für ihren ‚Mut’, queere Rollen zu spielen», Preise einheimsten, «während man queeren Schauspieler*innen nicht zutraut, Hetero-Rollen zu verkörpern».

Wie sehr die Diskriminierung im Film systemimmanent ist, zeigte eine Recherche der «Süddeutschen Zeitung» vom letzten April. Dort wurde nicht nur das verdeutlicht, was eigentlich jeder weiß, nämlich dass es kaum große Karrieren bekannter schwuler Schauspieler gibt; vor allem aber: Wie hilf- und ahnungslos die Branche auf dieses Problem, reagiert, ja, dass sie noch nicht einmal so richtig zu verstehen scheint, was das Problem daran eigentlich ist.

Die selbständige Casterin Daniela Tolkien gibt hierfür ein schönes Beispiel. Einerseits hatte sie auf einer Podiumsdiskussion Schwulen davon abgeraten, sich zu outen, weil sie schon erlebt habe, das Schauspieler wegen ihrer offen gelebten Homosexualität Jobs nicht bekommen hätten. Andererseits findet sie dann im SZ-Gespräch doch alles nicht so schlimm, meint sogar, dass schwule Männer keinen «pauschalen Karrierenachteil» hätten.

Die SZ resümiert das Gespräch mit ihr: «'Es geht', konstatiert sie, 'nur um eine bestimmte Art von Rollen. Und das sind die Love-Interest-Rollen.' Und auch da schränkt sie noch ein: 'Ich glaube, sich als schwuler Schauspieler zu outen, ist nur problematisch auf dem ganz obersten Level.»

Gerade weil man so etwas immer wieder zu hören ist, muss man hier energisch widersprechen: Denn was an der Spitze ein Problem ist, ist es in der Regel auf allen Ebenen. Es betrifft nicht nur die, die es nach oben geschafft haben, sondern auch all jene, denen signalisiert wird, dass sie es nie könnten, ganz egal, ob sie es je wollten. Es setzt eine Norm, einen Kodex. Es schafft im Kopf und im Verhalten aller Beteiligten ungeschriebene Regeln mit enormer Reichweite. Und was ist das für eine Botschaft an junge Schauspieler, wenn sie besagt, dass sie entweder nicht nach oben kommen können, oder, wenn sie es denn doch täten, vor einem gewaltigen Problem ständen?

Aber noch schlimmer ist das Gerede von der «bestimmten Art von Rollen». Denn erstens bedeutet das ja, dass man gewisse Rollen nicht spielen darf, obwohl man es könnte, obwohl man für die Rolle passte, was einem Kern des Schauspielerseins ganz grundsätzlich widerspricht. Und zweitens stimmt es einfach nicht: Es sind nicht nur die «Love-Interest»-Rollen, die für offen schwule lebende Darsteller schwer erreichbar sind, es sind alle, bei denen es um tradierte Männlichkeitsmuster geht.

Die Antwort auf die Frage, ob sich schwule Schauspieler überhaupt outen sollten, lautet in der Branche ungefähr so: Man kann es niemandem raten; es ist eine persönliche Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen muss. Das Problem: Einerseits stimmt es, andererseits aber auch nicht. Sex mag eine Privatsache sein, sexuelle Identität ist es nicht, wie ein Blick auf die der Heteros zeigt: Niemand käme auf die Idee, dass es ein Problem sein könnte, die Heterosexualität eines Menschen offen anzusprechen, egal, ob dieser eingewilligt hat oder nicht. Der einzige Grund, warum Homosexualität eine Privatsache sein soll, ist also die Homophobie.

Jemandem zu empfehlen, sich nicht zu outen, bedeutet demnach, sich den Gesetzmäßigkeiten der Homophobie zu fügen. Wer von einer Privatentscheidung spricht, macht Homophobie zum Privatproblem – als hätte man sich seine Homosexualität, als hätte man sich die allgegenwärtige Homophobie selbst ausgesucht. Gerade in einem Beruf, in dem es auch darum geht, sich zu entfalten, sich auszuprobieren, etwas zu wagen, dürfte ein Leben in Lüge, ein Leben in Angst vor großer und kleiner, alltäglicher Erpressbarkeit eigentlich keine Option sein. Erpressbarkeit heißt übrigens nicht, dass man erpresst wird, sondern man das Gefühl hat, dass man erpresst werden könnte.

Es muss also eigentlich nur um das Wie gehen – und nicht um das Ob. Es darf sich nicht um eine reine Risikoabwägung handeln – zum Beispiel um die Angst, weniger oder schlechtere Rollen zu bekommen –, sondern darum, wie dieses Risiko minimiert werden kann. Aus der Privatsache muss eine allgemeine Sache werden, es muss gleichermaßen und gleichzeitig über individuelle allgemeine Strategien gesprochen werden.

Das Bild des Sprungs vom Zehnmeterbrett ist ein schiefes, weil der, der gesprungen ist, danach nie wieder etwas mit diesem Sprung tun haben muss; der Sprung wird höchstwahrscheinlich auf sein weiteres Leben keinen allzu großen Einfluss haben. Doch einmal schwul, immer schwul: Für den, der sich outet, wird vieles nicht mehr so sein, wie es vorher war, weil die, sie ihn anschauen, es mit anderen Augen tun werden. Da es beim Beruf des Schauspielers vor allem darum geht, dass und wie er vom Publikum gesehen wird, gerinnt die einfache Eigenschaft «schwul» gleichsam zum zweiten Vornamen. (Hier ähnelt der Schauspieler- dem Fussballspieler-Beruf auf eine Art, die ihm nicht recht sein kann.)

Und: Nichts gegen Homosexuelle zu haben, verhindert nicht, dass selbst der liberale, aufgeklärte Zuschauer ab dem Coming out dauernd im Blick hat, dass diese Darsteller homosexuell sind. 

Warum das ein Karrierenachteil ist, erklärt der britische Schauspieler und Regisseur Rupert Everett in einem SZ-Interview so: «Weil es so selten offengelegt wird, ist es der einzige Punkt, den die Leute mit einer Person verbinden. Das ist für einen Schauspieler, der an seiner Kunst gemessen werden will, sehr schlecht.»

Damit Homosexualität kein Karrierenachteil ist, müsste es mehr geoutete Homosexuelle geben und mehr geoutete Homosexuelle in großen Rollen. Damit Homosexualität kein Karrierenachteil ist, müsste das Bild Homosexueller sich ändern, müsste es mehr, müsste es vielfältigere Bilder von Homosexualität geben. Homosexualität müsste öfter Thema sein. Andererseits müssten Figuren öfter auch dann sichtbar und selbstverständlich homosexuell sein, wenn Homosexualität eben nicht Thema ist. Normal schwul eben.

Damit all das passieren kann, dürfen nicht alle darauf warten, dass wieder jemand vom Zehnmeterbrett springt. Nicht einer muss den ganz großen Mut haben, sondern alle immer wieder ein bisschen, also auch die Heteros unter den CasterInnen, RedakteurInnen und RegisseurInnen. Sie müssten alle bereit sein, sich einzugestehen, dass es nicht nur die Rollenerwartungen und Stereotype des Publikums sind, die sie davon abhalten, einen offen schwulen Schauspieler als männlichen Helden zu besetzten, sondern auch ihre eigenen.

Das gern verwendete Argument, dass das Publikum in dieser Frage weiter sei als die Entscheider, führt hier nicht weiter. Denn woran will man das festmachen? Weil es kaum gut gemachte Versuche gibt, die tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungen des Publikums zu brechen, gibt es hier auch kaum Erfahrungswerte. Auch hier darf es nicht um das Ob gehen, sondern um das Wie. Natürlich ist das eine Herausforderung, auch eine kommunikative. Gefragt ist Kreativität. Warum traut sich das eine Branche nicht zu, in der so viele Kreative sitzen?

Als der offen schwule Regisseur Falk Richter 2014 mit «Small Town Boy» eine rein schwule Thematik auf die Bühne brachte, bezweifelten viele, dass dies auch für eine nicht-homosexuelle Zielgruppe spannend und relevant sein könne. Mittlerweile ist «Small Town Boy» eine der erfolgreichsten Inszenierungen im Gorki-Theater. Funktioniert hat das unter anderem auch deshalb, weil das Stück trotz seiner Subjektivität eben kein Stück nur für Schwule ist, sondern durch den Blick einer Minderheit eine aufrüttelnde neue Perspektive auf die Adoleszenz und die Gesellschaft ermöglichte.

Und genau so, wie schwule Geschichten Geschichten über die ganze Gesellschaft sein können, haben offen schwule Schauspieler das Zeug zum Helden für alle. Immerhin sind sie ja schon mal: gesprungen.