
Rebell wird Alter Meister
Zuschauen lernen mit Hans Neuenfels
Mein Leben mit dem Theater begann im März 1970, als ich, gerade sechzehn, in einer Schülergruppe bei den «Städtischen Bühnen Münster» mitarbeitete. Wir spielten die Fußball-Fans in Peter Tersons «Zicke Zacke», einem Stück, das damals bundesweit Erfolge feierte. Die Deutsche Erstaufführung hatte Hans Neuenfels in Heidelberg inszeniert. Es handelte von Gewalt unter den Fans, das war schon damals – und nicht nur in England – ein Thema. Neuenfels, Absolvent des Max-Reinhardt-Seminars in Wien, galt als Experte für Extremes.
Regisseur in Münster war der Schauspieler Knut Koch, der am Burgtheater bei Fritz Kortner begonnen, in Bremen bei Peter Zadek gespielt und dann danach in Heidelberg auch mit Neuenfels gearbeitet hatte. Beide gehörten sie zur «Generation Krieg», den 1941 geborenen Männern, die für das deutschsprachige Theater im Westen besonders wichtig wurden – darunter Hermann Beil, Jürgen Flimm, Bruno Ganz, Klaus Michael Grüber, Otto Sander, Gert Voss, Wolfgang Wiens. Sie waren Mitte Zwanzig, als die Studenten den Aufstand wagten – und auch in den Theatern die altgedienten Patriarchen allmählich zur Disposition standen...
Im Herbst 1972 war ich in Frankfurt. Dort begann das große emanzipatorische Experiment des Mitbestimmungstheaters um Peter Palitzsch und Hans Neuenfels. Lore Stefanek, die ich über Knut Koch kennengelernt hatte, war auch im Ensemble und besorgte mir Steuerkarten für zwei Neuenfels-Inszenierungen: Shakespeares «Troilus und Cressida», ein melancholisches Märchen mit alten Kindern im blitzdurchzuckten pantheon-artigen Bühnenraum von Adolf Steiof, es spielten Elisabeth Trissenaar, Hermann Treusch, Peter Roggisch; und Niels Höpfners «Das Tier», ein Stück über den Knabenmörder Jürgen Bartsch, von Ulrich Hass im Alleingang expressionistisch und beängstigend auf die Kammerspielbühne gewuchtet.
In Frankfurt ging passender Weise zur selben Zeit ‚Der Nebelmörder’ um, ich wohnte im Rotlichtviertel zwischen Bahnhof und Schauspielhaus und fand «Das Tier» und die mörderische Wirklichkeit gleichermaßen aufregend und gespenstisch.
Lore Stefanek traf ich – sie war Tag und Nacht mit dem gefräßigen Gespenst ‚Mitbestimmung’ beschäftigt – eigentlich nur in der Kantine; dafür lernte ich aber dort per Handschlag und wie nebenbei Hans Neuenfels und Elisabeth Trissenaar kennen, die mir bis dahin nur aus Erzählungen und von der Bühne vertraut waren. Ein bezauberndes Paar: er ein rabaukiger eiskalter Engel à la Alain Delon, mit der rauchigen Reibeisenstimme des klassisch einsamen Macho-Cowboys aus einem Italo-Western; sie ein schöner, lockig lockender Vamp mit charmant und perfekt kultiviertem nasalen Wiener Singsang, der aber, wenn gebraucht, eiskalten Stahl im Blick hatte.
Neuenfels-Trissenaar-Inszenierungen haben mich als jungen Zuschauer geprägt wie sonst nur die Inszenierungen von Peter Stein und Peter Zadek. «Fräulein Julie», abgründig-expressiv; «Nora», bürgerlich-verworfen; «Hedda Gabler», feministisch-aggressiv; «Medea», tragisch-blutig; «Penthesilea», klassisch-katastrophal; «Iphigenie», klassisch-schön – und immer mit der Trissenaar in der Titelrolle; die Produktionen setzten für mich Maßstäbe. Ihr expressives, tragödinnen-mutiges Spiel beim Absturz sowohl der antiken Figuren wie der Bürgerinnen in jene nur allzu menschliche, weil schicksalhafte Ausweglosigkeit, die wir trotz aller Aufbruchsstimmung auch in uns erahnten, ihr SCHAU-Spiel war für die siebziger und frühen achtziger Jahre so zeitgemäß wie Neuenfels’ tiefenpsychologisches Ausloten und rebellisches Auspressen der dramatischen Stoffe. «Das Leben ist eine Rutschbahn», heißt es in Wedekinds «Marquis von Keith», von Neuenfels in Köln inszeniert...
Auch als Theaterkritiker begann ich mit Neuenfels. «Theater heute»-Gründer Henning Rischbieter – (m)ein Professor an der Berliner FU, der mich als Volontär zur Zeitschrift geholt hatte – sagte: «Sie sind doch Musil-Kenner. Wollen Sie nicht über Neuenfels’ ‚Schwärmer’-Inszenierung hier am Schlosspark-Theater schreiben? Es gibt schon eine Rezensentin. Sie schreibt ein Contra, das weiß ich – und wenn Ihnen Neuenfels’ Sicht gefällt, dann ist ein Pro fürs Blatt interessant. Wenn nicht, dann kommt eben nichts. Was nicht im Heft steht, weiß der Leser nicht.» Ein Wahrsatz, den ich mir merkte.
Die Premiere war schon vorbei, deshalb ahnte Rischbieter, was die bis dahin vorgesehene Allein-Rezensentin schreiben würde. Ich sah die dritte oder vierte Vorstellung. Ich mochte die Inszenierung. Ich mochte die beiden Hauptdarstellerinnen, Elisabeth Trissenaar als Regine und Elisabeth Schwarz als Maria. Ich mochte Neuenfels’ psycho-realistischen Zugriff. Ich schrieb also ein Pro. Ich schrieb zunächst mal ca. 25 000 Zeichen. Es war viel zu lang, selbst für damalige «Theater heute»-Verhältnisse.
Rischbieter las den Text. Brummelte etwas von «durchaus brauchbar» und sagte dann: «Schauen Sie mal, auf Seite 4 Ihres Manuskripts, wo Sie beschreiben, wie die Trissenaar Bettzeug auf die Bühne wirft. Damit fangen Sie an. Und Ihre Überlegungen zu Musil streichen Sie auf ein Drittel zusammen, und das verteilen Sie argumentativ in Ihre Kritik.» Am Ende resümierte ich, dass Musil Neuenfels’ sehr körperliche Inszenierung wohl nicht gefallen hätte. Aber mir.
Eines meiner ersten Schauspieler-Portraits bei «Theater heute» galt der Trissenaar. Im Januar-Heft 1984 ist sie auf dem Titel – als Penthesilea. Die Kleist-Tragödie hatte Neuenfels auch verfilmt mit ihr, sehr kondensiert und nur angelehnt an seine erfolgreiche Bühneninszenierung am Schiller Theater. Und bei den Proben zu Jean Genets «Der Balkon» hatte ich ein paar Monate zuvor über viele Tage hin miterlebt, wie das «hohe Paar» miteinander arbeitete. Sie gingen künstlerisch und persönlich immer bis an ihre Grenzen und immer aufs Ganze: genre-genauer Strindberg – auch noch lange «nach Achtundsechzig» für viele Ehen gültig. Sie nannte ihn immer «Neuenfels», er sprach von «Die Trissenaar». Sie waren ihre wechselseitigen Markenbotschafter.
Hans Neuenfels beschritt von Anfang an und – ebenfalls von heute aus betrachtet – geradezu exemplarisch und höchst konsequent seinen Weg durch die Institutionen. Wie so viele aus der «Generation Krieg». Aber besonders erfolgreich. Seine frühen Inszenierungen im Schauspiel waren ungestüm und darin durchaus kalkuliert: «Marat/Sade» zum Beispiel und «Fräulein Julie», in Heidelberg. Im Frankfurter Mitbestimmungsdrama war er der unberechenbare Künstler, Peter Palitzsch hingegen der kluge, politisch motivierte Moderator. Neuenfels’ archaisch-effektbewusste «Medea» in Frankfurt, in der Trissenaar als Mördermutter mit schwarzen Doggen und halbnackten Knaben, ihren Söhnen, auf der Bühne stand, geriet 1975 zum Skandal, der berühmte Kulturdezernent Hilmar Hoffmann («Kultur für alle») musste helfend intervenieren – und die Produktion triumphierte später beim Berliner Theatertreffen; und Neuenfels’ «Aida» (1980 in der dortigen Oper) war ein Wendepunkt des zeitgenössischen Musiktheaters.
In (West-)Berlin, wo Neuenfels zunächst an den Staatlichen Schauspielbühnen, an Boy Goberts Schiller Theater arbeitete, wurden er und «die Trissenaar» ziemlich rasch wie kostbare Solitäre gehandelt, was ihren Impetus eher entschärfte; und als Neuenfels schließlich die dortige Freie Volksbühne als Intendant übernahm, wurde der Bilderstürmer des Schauspiels selbst zur marktgerechten Ikone, die Marke zum Markenartikel. Wie nebenbei drehte er Filme, schrieb einen ersten Roman. In der Opernregie aber, ästhetisch lange konservativer und somit noch aufnahmewillig für den allmählich alternden Anarchismus des psychologisch-analytischen Regisseurs, gelangen ihm in den letzten 20 Jahren wundersam erhellende und aufrüttelnde Inszenierungen, sogar in Bayreuth – mit «Lohengrin».
Der Regisseur Neuenfels hat dabei seine Handschrift gar nicht so wesentlich geändert, sie wird nur, je nach Zeitpunkt, anders gelesen. Er ist tatsächlich nicht altmodisch geworden. Aber es steckt auch kein automatischer Exorzismus mehr in seinen lange antibürgerlich wirksamen szenischen Exerzitien. Die singenden Ratten im «Lohengrin»-Chor wirkten im ersten Bayreuther Festspieljahr noch wie Stecknadeln im Sitzkissen der Wagnerianer und waren Thema Numero Eins auf dem Grünen Hügel. Doch schon im zweiten Jahr war der Skandal konsumabel geworden. Und als wir im dritten Jahr nach der Wiederaufnahme-Premiere im Garten des hügelnahen Restaurants «Bürgerreuth» beim späten Abendbrot saßen, kam Kanzlerin Merkel – illuminiert von der Produktion, die sie nun zum dritten Mal gesehen hatte – und verkündete, «Lohengrin» sei neben Heiner Müllers Bayreuther «Tristan» ihre Lieblingsinszenierung.
Was den Bürger im Neuenfels nicht reute. Das Schöne an seinem Lebensweg: Er scheint nur in der Rückschau konsequent; in seinen einzelnen Stationen war vieles verrückt und voller Verve und oft ein saftiger Skandal. Doch Skandal – das ist nicht so einfach, wie Cocteau feststellte, und er erfordert ein bürgerliches Publikum, das seine Konventionen noch achtet. Hans N. war im rebellischen Glück, solange Dekonstruktion für den bildungsgewissen wissenden Zuschauer noch ein fieses Fremdwort war. Wenn anything goes regiert, haben die Theater-Rebellen keinen wirklichen Stachel mehr, aber umso mehr leichten Erfolg.
Da Neuenfels nicht nur inszenieren, sondern auch hervorragend schreiben kann, sind seine (Theater-)Erinnerungen «Das Bastardbuch» (2011 erschienen) mehr als persönliche Notate, sie sind – vor allem auf den ersten hundert Seiten, die den Aufbruch des Krefelder Beamtensohns in die Kunst schildern – ein Stück Sozialgeschichte der alten Bundesrepublik, die auch Geist und Bedeutung „von Achtundsechzig“ für die Theaterkultur reflektieren. Obwohl Neuenfels alles andere als ein klassischer (Alt-)Achtundsechziger ist.
2016 erhielt H.N. – folgerichtig – den «Faust» (eine Auszeichnung des Deutschen Bühnenvereins) für sein Lebenswerk. «Faust» hat er nie inszeniert. Am 31. Mai wird er 77. Kein Klassiker zu Lebzeiten. Aber auch kein Rebell mehr, sondern ein Alter Meister. Und äußerlich äußerst stilvoll gealtert. Die Stimme aber hat sich kaum geändert, ist wie damals rau, rauchig, rebellisch.