
Wahrheitssucher
In memoriam Jürgen Flimm
Ein Regisseur, das war er in der Tat. Und einer der besten, die das deutsche Theater nach dem Zweiten Weltkrieg hervorbrachte. Doch Jürgen Flimm genügte das kaum, er besaß viele Talente. Er konnte nicht nur Stoffe durchleuchten, um sie mit seinen Ideen zu beflügeln (und zu hinterfragen), er besaß nicht nur die Gabe, mit Menschen auf der Bühne umzugehen (Wolf Lepenies nannte ihn einen «Atmosphärenzauberer»), er suchte vor allem nach der Wahrheit hinter den Menschen, den Worten – und seit 1978 (als er mit Nonos «Al gran sole carico d’amore» in der Oper debütierte) auch hinter der Musik. Mochte das Leben um ihn herum seine Kapriolen schlagen, für Flimm war die Bühne der wichtigste Schauplatz auf Erden. Da fühlte er sich, selbst wenn er (was häufig genug passierte) litt, pudelwohl, den ganzen Tag und wenn es sein musste, auch noch in der Nacht.
Ein Kriegskind war er, 1941 in Gießen geboren. Die Familie protestantisch: sinnlich und zur Not auch widerspenstig. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Köln. Die Stadt, ihre freundliche Rotzigkeit, prägte ihn, wurde seine (auch habituelle) Heimat, dort studierte er Theater- und Literaturwissenschaft. Der kölsche Humor war zeitlebens auch Flimms Humor, will sagen: von Schalk und selbstironischem Sarkasmus durchsetzt. Schnell wurde ihm klar, dass er Regisseur werden wollte, aber der Wirblig-Vielbegabte hätte ebensogut eine Karriere als Schriftsteller einschlagen können. Liest man sich noch einmal durch seine zugespitzten Erzählungen, Essays und Erinnerungsstücke, besticht unabhängig von der gewählten Form der Wortwitz, die freche Verve, der Rhythmus des Geschriebenen. Nicht selten begleiten Zeichnungen diese Texte, auch sie verraten den gewieften Dialektiker.
An einem solchen Erfinder und Seelensucher kam das Theater natürlich nicht vorbei (und er nicht an diesem). Auf dem Theater konnte man die Welt, wenn schon nicht neu erfinden, so doch zumindest ummodeln und dabei nach dem Wahren, Schönen, Guten trachten, ohne das Absurde der menschlichen Existenz aus dem Blick zu verlieren. Nicht zufällig waren – neben Marieluise Fleißer und Ödön von Horváth – Anton Tschechow und William Shakespeare Flimms Lieblingsdramatiker. In ihren Stücken musste er nicht lange suchen, um das, was ihn beschäftigte, aufzuspüren: den Menschen in seiner unnachahmlichen Schwäche. Flimm machte die theaterübliche Karriere: vom Assistenten zum Regisseur, vom Regisseur zum Theaterleiter. Er wusste, wie man sich durchsetzt, mit welchen «Leuten» man reden musste, um nach oben zu kommen. Aber dieses «da oben» war ihm stets nur Mittel zum Zweck. Er wollte vor allem eines machen: Theater!
Den gesamten Beitrag von Jürgen Otten lesen Sie in Opernwelt 3/23