Mit welchem Wissen über Ernährung kommen die Studierenden bei Ihnen an? Haben sie sich je mit dem Thema beschäftigt?
Das ist ganz verschieden. Ihre Hauptquellen sind Social Media, das Wissen kommt aus allen Ecken der Welt, genau wie die Studierenden. Wenn sie aus Osteuropa oder Asien kommen, ist es schwieriger, viele Studentinnen mussten in ihren alten Schulen ein sehr starkes Untergewicht halten.
Und Sie sagen ihnen jetzt: Ihr müsst zunehmen!
Sie finden es erst einmal leicht an der Ballett-Akademie, weil der Druck, wie er in der Heimat war, nicht mehr existiert. Die Studierenden berichten mir, dass die Lehrkräfte ihnen hier nichts über ihr Gewicht sagen, was sehr gut ist. Einige nehmen zu in den ersten Monaten, aber andere ... In der Tanzwelt erfüllen etwa 20 Prozent der Künstler die Kriterien einer Essstörung, nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Fast die Hälfte hat ein ungesundes Verhältnis zum Essen – «Disordered Eating» heißt der englische Fachbegriff. Sie lassen eine Mahlzeit aus, sie verzichten auf Kohlenhydrate, essen nur Salat, oder sie essen gar nichts während des Trainings. Das ist erstens ein Wissensproblem, unsere Studierenden müssen lernen, dass Essen eine Energiequelle ist, und zweitens haben sie seit vielen Jahren gehört, dass sie dünn bleiben müssen. Aber in der Pubertät ist es ganz normal, dass die Jugendlichen zunehmen, denn das ist die zweite rasante Wachstumsphase in unserem Leben, nach der Säuglingsphase.
Wie macht sich das bemerkbar?
Es gibt viele Tänzerinnen mit verzögerter Pubertät. Die sind 16 Jahre alt, sie haben keine oder eine unregelmäßige Periode, und das kann lebenslange gesundheitliche Konsequenzen haben. Wenn Tänzerinnen ganz normal wachsen, mit ganz normalen Hüften, dann denken sie: Ich muss abnehmen. Das kann ein Trigger für eine Essstörung sein. Bei den Jungen fängt die Pubertät etwas später an, die sind immer ein wenig hinterher. Dann können sie die Mädchen nicht hochheben, weil die schon keine Mädchen mehr sind, sondern Frauen. Das ist ein Riesenproblem. Aber wir haben dieses Jahr einen Mindestwert im BMI etabliert, den Tänzerinnen und Tänzer erreichen müssen, um an unserer Ballett-Akademie studieren zu können.
Wo andere Schulen einen Höchstwert vorschreiben?
Die Tänzer und Tänzerinnen können dieses Training nicht leisten, wenn sie stark untergewichtig sind. Das Gesundheitsteam hat das Konzept etabliert, dass wir bei allen Größe und Gewicht zweimal im Jahr messen – nicht um zu schauen, ob sie abnehmen, sondern um festzustellen, ob sie ein angemessenes Gewicht haben. Wenn sie untergewichtig sind, dann sehe ich die Studierenden regelmäßig. Manche Studierenden müssen bis zu vier Kilo zunehmen, um den BMI-Mindestwert zu erreichen, weil sie stark untergewichtig sind. Manchmal kommt Widerstand, die Eltern sind dagegen, die Lehrer sind dagegen. Aber unsere Priorität ist die kurz- und langfristige Gesundheit unserer Studierenden. Tanz ist letztendlich ein Leistungssport, sie sind Athleten. Das Internationale Olympische Komitee hat ein praktisches und evidenzbasiertes Protokoll etabliert, die Sportwelt ist da viel weiter.
Das gesamte Interview von Angela Reinhardt lesen Sie in tanz 3/23
(Portrait: privat)