Inhalt

Eindringliche Wucht

Der Choreograf Hofesh Shechter

Wie kommt es, dass einer, der in Metropolen wie London und Paris gefragt ist, sich ausgerechnet bei Gauthier Dance in Stuttgart als Artist in Residence bindet? «Mir hat die Vorstellung gefallen, eine Beziehung aufzubauen und regelmäßig für eine andere Kompanie zu arbeiten», erläutert Hofesh Shechter. «Gauthier Dance ist klein und familiär. Die Stimmung ist sehr herzlich. Die Tänzerinnen und Tänzer sind eng mit meiner Arbeit vertraut und haben ein großes Verständnis für sie», sagt Shechter. Dass er im Frühjahr 2021 das Angebot von Eric Gauthier annahm, spricht auch für den internationalen Ruf der Theaterhaus-Kompanie.

Mit zwei Uraufführungen hat Shechter inzwischen zu den Gauthier-Dance-Premieren «Swan Lakes» (tanz 10/21) und «Seven Sins» (tanz 6/22) beigetragen, beim Sünden-Reigen illustrierte er die Wollust unter dem Titel «Luxury Guilt». Schon 2017 hatte die Truppe das rein männlich besetzte «Uprising» für ihr «Mega Israel»-Programm (tanz 11/17) übernommen. Es ist das Stück, das den Erfolg von Shechters eigenem Ensemble mitbegründete und eine getanzte Kriegserklärung: Jede hingehaltene Hand, jede Umarmung endet im Kampf. «Uprising», inzwischen an etlichen Theatern nachgespielt, zeigt Gewalt und ihre Opfer, vor allem aber Tanz von eindringlicher Wucht. Hofesh Shechter, groß und sehr schlank, ist so pragmatisch gekleidet wie seine Tänzer auf der Bühne: schlichtes Shirt und Cargohosen, dazu Schnürstiefel mit dicken Sohlen, die signalisieren, dass ihren Träger so schnell nichts aufhält. «Es ist das reinste Vergnügen, etwas für Eric Gauthier und seine Kompanie zu kreieren», sagt er. «Wenn wir beide uns unterhalten, dann sprudeln die Ideen nur so. Ich mag Erics Begeisterungsfähigkeit.» Außerdem schätzt Shechter die Arbeit in Stuttgart, die Überschaubarkeit der Stadt. «In London ist es schwer, von einem Ort zum anderen zu kommen.» » Dass der heute 47-Jährige dennoch vor mehr als zwanzig Jahren in der englischen Hauptstadt Fuß fasste, sei einfach so passiert, blickt Shechter zurück: «Meine Freundin wollte in London leben. Vom ersten Tag an hat sich das für mich richtig angefühlt, während ich zuvor in Paris und Tel Aviv immer etwas verloren war.» In London hat Hofesh Shechter mit «Fragments» 2003 sein choreografisches Debüt vorgelegt, hat 2008 seine eigene, inzwischen am Brighton Dome residierende Hofesh Shechter Company gegründet, hier sind seine beiden Töchter geboren.

Wie Orte hat Hofesh Shechter auch Kunstgenres ausprobiert. Heute fließen in seiner Arbeit viele Erfahrungen zusammen – der Tanz war die erste. 1975 in Jerusalem geboren, absolvierte Shechter an der dortigen Academy of Music and Dance eine entsprechende Ausbildung. Es folgten zwei Jahre bei den Batsheva-Junioren, danach eineinhalb Jahre in der Hauptkompanie. «Das ist die beste Kompanie, bei der man in Israel tanzen kann», sagt Shechter. «Trotzdem war ich nicht richtig glücklich. Tänzer zu sein, war nicht das, was ich wollte.»

Etwas Kreatives mit Tanz und Musik schwebte ihm damals vor, in Tel Aviv und Paris studierte er Schlagzeug. Die Musik behält auch für den Choreografen Shechter eine besondere Bedeutung. «Musik kann dich zu tiefen Orten in deiner Seele tragen», sagt das Multitalent und zieht Parallelen: «Choreografieren ist ein bisschen wie Komponieren; eine große Gruppe muss ich wie eine Sinfonie organisieren, eine Sinfonie der Energie. Es geht um den Fluss der Energie, um Pausen, um Spannung, um Strukturen, um Gefühle. Die Verbindung von Musik und Choreografie fasziniert mich. Wie in einem Film kann ich verschiedene Komponenten zusammenbringen.»

Den gesamten Beitrag über Hofesh Shechter von Andrea Kachelrieß lesen Sie in tanz 3/23

(Portrait: Hugo Glendinning)