
Die Kunst der Pause
Dietrich Hilsdorf über Castorf, Schleef und sich selbst
Wenn man Sie einen «Altmeister» nennt, finden Sie das okay? Kompliment oder falsche Etikettierung?
Sie sehen mich vergnügt. Ich weiß, dass ich sehr viel gelernt habe in den 45 Jahren – von den Komponisten, wobei ich von Verdi etwas anderes gelernt habe als von Mozart, von Hindemith etwas anderes als von Scarlatti; von allen Autoren der Weltliteratur, aber auch von den Komponisten. Und am meisten vielleicht vom Kino, und hier insbesondere von Alfred Hitchcock, den ich neben Giuseppe Verdi als meinen eigentlichen Lehrmeister bezeichnen würde. Bei Hitchcock ist immer diese merkwürdig kitschige Komponente drin: Böse Jungs und Mädchen, die Juwelen klauen, werden unter der Dusche umge bracht. Aber was ist das für ein Timing! Ich nenne es den optischen Rhythmus. Frank Castorf, der ein fantastischer Regisseur ist, hat davon leider gar keine Ahnung oder will keine haben. Einar Schleef beispielsweise wusste ganz genau, was ein gutes Timing ist: Nach zehn Minuten Handballspielen erst mal eine Pause, und auch seine 20 Hamlets zitieren zehn Minuten lang «Sein oder Nichtsein» und atmen dann erst kräftig durch: Ein eigenes Timing zu erfinden, Schleef konnte das, und man konnte es bei ihm lernen.
Ihre Referenzgrößen stammen vorwiegend aus den 1970er- und 1980er Jahren. Wie sieht es mit dem Einfluss der Jugend aus?
Nun ja, da sehe ich oft nur irgendwie ausgedachte Sachen. Mein Bühnenbildner Dieter Richter nennt das «Modern sein wollen in Albanien». Da ist wenig von des Gedankens Blässe angekränkelt. Vor Monaten war ich zur Präsentation eines Buchs über Valery Tscheplanowa eingeladen. Für mich war der Abend vor allem deswegen eine Erbauung, weil da eine junge Schauspielerin ganz klar für das «analoge» Theater plädierte. Ich hätte sie umarmen können.
War für Sie Patrice Chéreaus «Jahrhundert-Ring» in Bayreuth, als Götter plötzlich Menschen waren, das Erweckungserlebnis schlechthin?
Ja, das kann man wohl so sagen. Ich habe diesen «Ring» 1976 in Bayreuth gesehen. Und als ich mir vor einiger Zeit wieder einmal die DVD anschaute, habe ich wirklich nicht verstanden, warum Leute damals mit Trillerpfeifen in die Vorstellungen kamen. Ich fand die Aufführung unglaublich gut. Die lautstarken Buhs bei der ersten Operninszenierung von Hans Neuenfels, Verdis «Trovatore» 1974 in Nürnberg, bei der ich assistierte, habe ich auch nicht verstanden. Wir hatten acht Wochen lang, Tag und Nacht, am Stück gearbeitet, und nicht ein Mal kam die Idee auf, dass das ein Skandal werden sollte. Das war nicht die Intention der Inszenierung. Aber so ist das wohl, wenn Sex, Politik und Religion eine wichtige Rolle im Stück spielen.