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Rezensionen 8. März

Lüneburg: Olaf Schmidt «Der Zauberberg»

Am 10., 13., 23. März im Großen Haus

Zehn Tänzer sind nicht unbedingt eine Personaldecke, die einen Choreografen und seine Fantasie auf Dauer warmhält. Aber Olaf Schmidt, in der sechsten Spielzeit Tanzdirektor am Theater Lüneburg, hat für sich und sein Ensemble das Beste daraus gemacht. Das Kollektiv braucht den Vergleich mit Kompanien, die ein bis zwei Nummern größer sind, in keiner Weise zu scheuen. Zum einen ist es bunt und damit vielfältig einsetzbar bestückt. Zum anderen beherrschen alle ihr Handwerk – und das Quäntchen mehr, das die Lust am Zuschauen kitzelt. Und drittens ist Schmidt ein findiger Erzähler, der auf beredtes und ausdrucksstarkes Tanztheater setzt, um es mit Avantgarde-Zitaten von gestern und heute auf ein Niveau zu heben, das die Tänzer fordert – und das Publikum herausfordert. Genauso verhält es sich auch mit der jüngsten Produktion, die einen Schlüsselroman auf die Bühne bringt: Thomas Manns «Der Zauberberg», den Schmidt als Psychostudie anlegt und mit einem Stilmix aus expressivem Elan à la Mats Ek und schneidiger Rasanz – Marke: Wayne McGregor – angeht. Seine Zehner-Seilschaft kommt mit diesem doppelgleisigen Zuschnitt prachtvoll zurecht. Dass die Geschehnisse sich nach der Pause allzu lawinenartig entwickeln, liegt allein an der Dramaturgie – die mehr bewältigen muss, als zwei Stunden Spieldauer hergeben. 

Darauf verkürzt Olaf Schmidt die siebenjährige Wanderschaft des jungen Hans Castorp durch Jahre, Räume und Befindlichkeiten im Davoser Lungensanatorium, wo er doch eigentlich nur seinen Cousin hat besuchen wollen. Phong Le Thanh zeichnet den hanseatischen Kaufmannsspross als Ich- und Weltensucher, vor allem jedoch als aufmerksamen Beobachter der Kranken-Enklave, für die Manuela Müller eine Rundarchitektur vor Alpengipfeln gebaut hat, die an den Schneepalast eines James-Bond-Bösewichts denken lässt. Darin versammelt der Choreograf nicht nur das romanbekannte Personal von Madame Chauchat (unwiderstehlich wildkatzig: Júlia Cortés) bis Lodovico Settembrini (Humanist in Hünengestalt: Wallace Jones), sondern gesellt ihm mit «Zeit» und «Tuberkulose» zwei Allegorien hinzu, die den dramatischen Faktor potenzieren. Claudia Rietschel wechselt einzig mithilfe eines roten Gesichtsschleiers von der Oberin zur  «Tuberkulose», von der Hüterin des Lebens zum Engel des Todes. Ein nebensächlicher Akt nur – so famos exekutiert, dass einem beim Hinschauen schüttelfrostig ums Herz wird. 

Wirklich sensationell aber ist der Moment, in dem sich Hans Castorp an eine Episode aus Schulzeiten erinnert. Wenn aus Madame Chauchat ein Knabe im Matrosenanzug wird, dem – halb offen, halb verdeckt – Castorps Begehren galt. Da gelingen Schmidt so innige wie irritierende Bilder aus dem Unbewussten, das Thomas Mann sich (vergebens) vom Leib zu halten suchte. Feine biografische Intarsie in einem überzeugenden Tanz-Tableau.

Dorion Weickmann

www.theater-lueneburg.de/stuecke/der-zauberberg-ua/