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Die Frau vom Meer

Die Sopranistin Nadja Mchantaf

Sie ist extrem wandlungsfähig, gebietet über eine schöne, frei fließende Stimme, besitzt großes schauspielerisches Talent. Ende Januar debütiert Nadja Mchantaf an der Komischen Oper Berlin als Mimì

Draußen, vor der Tür, die Kälte. Eisige Winde, Regenfäden, grauschwerer Himmel. Drinnen, im Ballettprobensaal, das Gleiche, nur in anderen Farben, Formen, Figuren. Eine Stiefmutter, deren Seele so schwarz ist wie ihr Kleid, zwei Stiefschwestern in blaustrümpfiger Blödheit, mit geflochtenen Zöpfen auf dem Kopf und Gemeinheiten im Gehirn. In ihrer Mitte die Verletzte, gefangen im steril-stählernen Gehäuse, gedemütigt, Bein und Herz gebrochen. Doch kaum erhebt das Mädchen mit dem märchenhaften Namen Lucette seine Stimme, strömt Wärme durchs gesamte Haus. Und eine Hoffnung, wie sie anmutiger, würdevoller kaum klingen kann.

Es ist «nur» eine Repertoirevorstellung in der Komischen Oper Berlin, an einem Sonntagnachmittag. Die Premiere liegt mehr als zwei Jahre zurück, die üblichen Schlendriane schleichen durch die Lamellen und den Graben. Aber für die Hauptdarstellerin gilt das nicht. Sie gibt sich hin. Schüttet Lyrismen und Lava in den Raum. Ist auf den Punkt fit, fokussiert, zudem in fabelhafter vokaler Verfassung. Wichtiger aber: Für Nadja Mchantaf macht das keinen Unterschied, ob es ein erster Abend ist, ein siebter oder ein – wie im vorliegenden Fall – geschätzt zweiundzwanzigster. Was zählt, ist der Moment. Und die Magie der Bühne.    

Hier blüht sie auf. Hier verwandelt sie sich. Und das aufs Erstaunlichste. Von der gehandicapten Ballerina aus Massenets Aschenputtel-Version «Cendrillon» zur unglücklich liebenden Romantikerin Tatjana aus Tschaikowskys «Eugen Onegin»; von der zartfühlenden Rusalka zur hochherzig-kühlen Érinice aus Rameaus «Zoroastre», von der brav-biederen «Carmen»-Micaëla zur attraktiv-animalischen Versuchung in Debussys «Pelléas et Mélisande». Das alles kann sie.

Und noch ein bisschen mehr. Erinnern wir uns an den Doppelabend des britischen Künstlerkollektivs «1927» mit «L’enfant et les sortilèges» und «Petruschka». Da trug die Sopranistin als singendes Ravel-Kind einen Fat-Suit, Beamtenbrille und garstig grüne Kniestrümpfe, hatte die Haare kurzgeschoren unter der hässlichen Uniformmütze, sah aus wie ein verrosteter Öltank auf zwei Beinen. Keiner konnte sie erkennen. Höchstens an ihrer quirligen Art, über die Bühne zu flitzen. Oder besser: zu tanzen.

Eben damit hat alles angefangen, im heimeligen Husum: mit Tanz. Jedoch nicht klassisch. Sondern mit Latino- und Pop. Direkt am Meer, wohin sie sich mindestens einmal am Tag träumend zurücksehnt, wenn sie durch die Straßen der Kapitale radelt, umringt von Verkehrsrowdys und Berliner Schnodderschnauzen. Das müsse man, meint sie, aushalten, wenn man abseits des «Schutzraumes Theater» überleben wolle, im «zweiten Leben» gewissermaßen (das, wie sie findet, keineswegs unwichtiger sei, im Gegenteil). Lächelnd, mit dem nötigen Maß an Philanthropie und Empathie, geht das.

Außerdem habe sie ein «Sportlerherz»; sie liebe es, Grenzen auszutesten. Dabei geht es ihr aber nicht ums Gewinnen. Sondern nur um die Herausforderung. Und von dort aus um Durchdringung. Abgesehen von einer lodernden, nuancierten, wo nötig, auch mal aufgerauten Stimme, ist es ja vor allem das, was ihre Rollenporträts durch die Bank auszeichnet: diese totale Selbstaufgabe, dieses Eintauchen und Verschwinden in der jeweiligen Rolle. Grandios ihre Mélisande. So hatte man Debussys vermeintlich zarte Gestalt noch nie gesehen: so existenziell, so brennend vor Verlangen und doch so ungemein verletzlich. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie das letzte Hemd gegeben hätte. 

Wenn sie dann so vor einem sitzt, zurückhaltend, scheu beinahe (nur nicht, wenn sie lacht), kann man kaum glauben, dass es die gleiche Person ist. Aber das ist (Musik-)Theater. Kunst der Überredung, Kunst der Illusion. Sie hat das nie geübt. Es ist eine Gabe. Aber natürlich weiß Nadja Mchantaf, wie schmal der Grat ist, auf dem sie als Künstlerin wandelt. Und sie weiß auch, dass das alles eben manchmal auch nur ein Job ist. Mehr Zeigen als Sein. Obwohl sie selbst Letzteres bevorzugt, auf und neben der Bühne. Sie trennt das nicht: «Das sind ja fast ausnahmslos Alltagssituationen, die wir lediglich überhöht darstellen. Aber gerade das ist das Großartige daran. Dass es real ist.» Kurze Denkpause, dann folgt, mit Blick auf die Bühne und das «normale» Leben, ein schöner, wichtiger Satz: «Man darf keine Angst davor haben, Schmerz zu erleben.»

Momentan jedenfalls fliegt die Sängerin von einem Gipfel zum nächsten. Der Berliner Boulevard feiert sie als «neuen Stern», und «Opernprinzessin». Alles wahr, alles schön, alles gut. Doch spätestens bei der Probe ist auch eine Prinzessin nur noch eine Sängerin im Ensemble, und vor ihr steht ein Regisseur, der ihr ein Konzept erläutert, welches nicht zwingend mit ihrer Vorstellung der Partie korrelieren muss. Da kann die «grundfröhliche» Frau vom Meer, die in Leipzig studierte und an der Semperoper Dresden den Feinschliff erhielt, auch schon mal grundsätzlich werden. 

Zum Glück für sie (und ihre Mitstreiter) gab es dazu bislang wenig Anlass. Ganz im Gegenteil. Nadja Mchantaf schwärmt von Regisseuren wie Barrie Kosky, Jan Philip Gloger und Damiano Michieletto, mit denen sie im Verlauf ihrer noch jungen Karriere zusammengearbeitet hat. Das klingt alles fast zu perfekt. Ist es aber, ungeachtet des steilen Aufstiegs, nicht. Denn hinter dem strahlenden Lächeln wohnt der leise Hauch von Melancholie. Aber selbst der wirkt bei ihr irgendwie noch verführerisch. Weil er authentisch ist, naturwüchsig. Wie das Meer, wenn es singt.

Jürgen Otten