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Grenzen der Demokratie

Wie sich die AfD durch die Kulturpolitik mogelt

Für die Geschichte der Demokratie in Deutschland ist der 9. November der wohl ambivalenteste Jahrestag: 1918 markiert er das Ende der Novemberrevolution mit der Ausrufung der ersten demokratischen Republik, 1938 den Umschlag der Diskriminierung jüdischen Lebens im Dritten Reich in seine systematische Vernichtung, 1989 den Fall der Berliner Mauer und damit das Ende der DDR-Diktatur. 

Dass am 9. November 2018, dem 80. Jahrestag der Reichspogromnacht, der Verein «Wir für Deutschland» mit der bewusst zweideutig «Trauermarsch für die Opfer von Politik» betitelten Demonstration die Opfer des Nationalsozialismus missbrauchen könnte, um die Berliner Stadtmitte und den symbolischen Raum des Gedenkens mit rechtsradikaler Propaganda zu besetzen, war lange Zeit schwer vorstellbar. Zwar marschierten dann am 9. November tatsächlich nur versprengte 100 «Patrioten». Doch ihr Versuch, den gesellschaftliche Konsens aufzukündigen, demzufolge der Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 kein «Vogelschiss» (Alexander Gauland) war, sondern die «größten Staatsverbrechen der Menschheitsgeschichte» (aus der «Erklärung der Vielen») verursacht hat, ist symptomatisch.

Auf diese Formulierung hatten sich die mehr als 300 Kunst- und Kulturinstitutionen geeinigt, in deren Namen sie am 9. November in Düsseldorf, Hamburg, Dresden und Berlin veröffentlicht wurde. Die Unterzeichnenden wollten an diesem gedenkwürdigen Tag allerdings nicht nur daran erinnern, dass in Deutschland «schon einmal Kunst als entartet diffamiert und Kultur flächendeckend zu Propagandazwecken missbraucht» wurde. Vielmehr machten die beteiligten Institutionen eine Art Solidaritätspakt publik, in dem sie sich selbst verpflichten, «kein Podium für völkisch-nationalistische Propaganda» zu bieten, einen «aufklärenden, kritischen Dialog über rechte Strategien» zu führen und sich gegenseitig zu unterstützen.

Nun legt die gesellschaftspolitische Entwicklung der letzten Jahre nicht unbedingt nahe, dass die ungezählten Plattformen, Online-Petitionen oder Offenen Briefe gegen Rechts viel bewirkt hätten. Und im PR-Licht betrachtet, wirkt die «Erklärung» vor allem als Selbstvergewisserung, die die eigene, meinungsverwandte Klientel umarmt, den öffentlich benannten Gegner aber ausschließt, was ihm zuverlässig größte Aufmerksamkeit verschafft.

Prompt folgte die Reaktion all derer, die sich von der Erklärung angesprochen fühlten. Dr. Alexander Wolf, AfD-Fraktionsvorsitzender in Hamburg, brillierte in seinem Beitrag zum klassischen Populismus mit What­aboutism («Zudem müssen Sie sich die Frage gefallen lassen, warum gab es keine Erklärung der Vielen nach der linksextremen G20-Gewaltspirale?») und die seit Joseph Goebbels etablierte rhetorische Praxis der Täter-Opfer-Schuldumkehr («Kunst ist sicher nicht dazu da, dass staatlich alimentierte Künstler und Institutionen Millionen Bürger diffamieren und ausgrenzen!»). Der AfD-Parteiphilosoph und ehemalige Sloterdijk-Schüler Marc Jongen rückte die «Erklärung der Vielen» in die Nähe religiösen Wahns: «Die obsessive Art und Weise, mit der dieser Widerstand (Anm.: der AfD) in immer neuen Anläufen stigmatisiert werden soll, erinnert an jenen Gadarener, der laut Markus- und Lukas-Evangelium von Dämonen besessen war und von sich sagte: ‹Legion ist mein Name, denn wir sind viele.›» 

«Wir reagieren darauf, dass wir konkret angegriffen wurden und werden», erklärt Jens Hillje, Co-Indendant des Berliner Maxim Gorki Theaters. «Die Koalition zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus beinhaltet immer eine Gewaltandrohung, die antidemokratisch ist.» Im September 2016 wurde das Gorki als erste Theaterinstitution in Deutschland Opfer einer sogenannten «Ästhetischen Intervention» der rechtsextremen Identitären Bewegung, die den «radioeins und Freitag Salon: Jakob Augstein im Gespräch mit Margot Käßmann» im kleinen Studio Я stürmten. «Es gibt im Gorki fast ausschließlich kontroversere Veranstaltungen, die man stören kann», merkt Chefdramaturg Ludwig Haugk an. «Interessant, dass sie ausgerechnet das Reformationsgedenken an Martin Luther gewählt haben.» 

Abgesehen davon, dass die Liveübertragung Medienpräsenz garantierte, auf die letztlich alle Aktivitäten der rechtsextremen Social-Media-Spezialisten in erster Linie ausgerichtet sind, erschließt sich die Interventionslogik durch die damals tagesaktuell verbreitete Presseerklärung. Als «typische Vertreter des linksliberalen Establishments» seien der Journalist Jakob Augstein und die evangelische Theologin Margot Käßmann «selbstverliebte Fürsprecher einer Entwicklung, die uns Deutsche zur Minderheit im eigenen Land werden lässt», und damit «Adressaten künftiger Interventionen». «Jakob Augstein, der grundsätzlich viel Spaß an Konfrontationen hat, fragte die Identitären zuerst nach ihrem Anliegen», berichtet Pressesprecherin Xenia Sircar. «Aber da kam nichts – weil die Aktion ausschließlich als Störung, nicht als Dialog geplant war.» 

Die Identitäre Bewegung, die öffentlich gern als junge Generation sympathischer Hipster mit ausgeprägter Liebe zur Heimat auftritt und in Anlehnung an den französischen Philosophen Renaud Camus lieber vom «Großen Austausch» als von «Umvolkung» spricht, wurde vom Bundesverband der AfD zwar auf die «Unvereinbarkeitsliste» gesetzt. Die Landesverbände können diesen Beschluss allerdings bei Aufnahmeverfahren mit Zweidrittelmehrheit aufheben. Seit ihrer Gründung als wirtschaftsliberale Anti-EU-Partei im Jahr 2013 hat ein rechter Flügel systematisch daran gearbeitet, die AfD personell mit rechtsradikalen Gruppierungen zu verflechten und damit in ein potenziell antidemokratisches Sammelbecken zu verwandeln. 

Kurz nach den rassistischen Manifestationen Anfang September in Chemnitz, der die «neue Unübersichtlichkeit» (Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus) des neurechten Spektrums abbildete, gab der völkisch-nationalistische AfD-Verein «Patriotische Plattform» seine Selbstauflösung bekannt. Der Vereinsvorsitzende Hans-Thomas Tillschneider, Abgeordneter im Landtag Sachsen-Anhalts und fachpolitischer Sprecher für Wissenschaft, Bildung und Kultur der AfD, begründete das wie folgt: «Seit dem Abgang von Petry stellt sich die Frage nach Sinn und Zweck der Patriotischen Plattform. Wir können alles, was wir sagen wollen, auch in der AfD sagen. Wir können alles, was wir tun wollen, auch (sic!) in der AfD, in unseren Kreis- und Landesverbänden tun.» 

Das wichtigste parteipolitische Instrument der AfD-Kulturpolitik stellen derzeit noch die kleinen und großen Anfragen dar, mit denen sie viel Arbeitszeit in den Ausschüssen und im Parlament bindet. Da die AfD selbst keine Mehrheiten hat, die Gesetze verändern können, muss sie bestehende Kulturinstitutionen möglichst öffentlichkeitswirksam angreifen, um als «Bewegung» im kulturpolitischen Diskurs wahrgenommen zu werden. Im Oktober 2017 forderte die Berliner AfD im Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten gleich für drei große Theater Kürzungen im Doppelhaushalt 2018/19. Für das Maxim Gorki mit der sachlich falschen Behauptung, «das Wirken der Intendanz» werde «der Aufgabe, breite Teile der Bevölkerung zu erreichen, nicht gerecht» und für den Friedrichstadtpalast, dessen Intendant Berndt Schmidt sich kurz zuvor in einer internen Mail von ausländerfeindlichen AfD-Wähler*innen abgegrenzt hatte.

Während die AfD im Ausschuss ein symbolpolitisches Scheingefecht inszenierte, das sich auf die verzerrte Darstellung der «Berliner Morgenpost» (sonst «Lügenpresse» genannt) stützte und Kürzungen in Höhe ihres Bundestagswahlergebnisses von 12,6 Prozent forderte, hatten ihre Sympathisanten Berlins größte Varieté-Bühne bereits durch Shitstorm, Hassmails und Morddrohungen temporär stillgelegt – wegen einer Bombendrohung mussten zwischenzeitlich 1.800 Menschen evakuiert werden. Den «Ausgangspunkt» der Kürzungsforderung für das dritte Berliner Haus, nämlich das Deutsche Theater, lokalisierte AfD-Ausschussmitglied Dr. Hans-Joachim Berg zielsicher in einem Halbsatz von Ulrich Khuon, den dieser in seiner Funktion als Präsident des Deutschen Bühnenvereins geäußert hatte («... ihre Aktivitäten gegen Rechtspopulismus und rechtsnationale Parteien zu verstärken»). 

Dass die Arbeit des Kulturausschusses dennoch weitgehend ungehindert vonstatten gehen kann, ist seiner resoluten Vorsitzenden Sabine Bangert (Die Grünen) geschuldet: «Herr Dr. Berg! Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass der Deutsche Bühnenverein nicht Gegenstand unserer Haushaltsberatungen ist.» Auch wenn sich die Wortprotokolle der Sitzungen wie unfreiwillige kulturpolitische Satire lesen mit Begriffen wie «Meinungsdiktatur oder «Gesinnungs- und Propaganda-Theater», sollte man die viel zitierte Phrase, Kunst dürfe natürlich alles, aber nicht mit Steuergeldern, als kulturpolitische Setzung ernst nehmen. 

Die Debatten lassen erahnen, was der deutschen Kulturlandschaft droht, sollten sich die Machtverhältnisse weiter verschieben. Während die «deutsche Leitkultur» auf der Homepage der Bundes-AfD immerhin noch in Beziehung zur «Aufklärung» steht, ist Hans-Thomas Tillschneiders «Renaissance der deutschen Kultur» in Sachsen-Anhalt längst in einer diskursiv bereinigten Romantik angekommen: «Es ist die Epoche, in der wir zu uns gefunden haben.» Ende November hat die neue politische Stiftung der AfD, die Desiderius-Erasmus-Stiftung, unter Leitung von Erika Steinbach angekündigt, gegen Bundesregierung und Bundesrat vor dem Bundesverfassungsgericht wegen ausbleibender Fördergelder zu klagen. 

«Im Moment wachen viele Leute auf und erkennen, dass die positiven Aspekte unserer Demokratie keineswegs selbstverständlich, sondern erkämpft sind und verteidigt werden müssen», erklärt Ulrich Khuon. «Unser Grundgesetz ist ein großartiges Gefäß, das vieles garantiert und gleichzeitig viel ermöglicht.» Im Umgang mit rechten Parteien blickt der Intendant auf eine gewisse Erfahrung zurück: Während seiner Zeit in Konstanz saßen die Republikaner im Gemeinderat, in Hamburg musste er auch der Schill-Partei seinen Spielplan vorstellen. Neben dem Engagement der Intendantengruppe bei der zivilgesellschaftlichen Initiative Offene Gesellschaft ist die «Erklärung der Vielen» für ihn ein weiterer wichtiger Schritt der institutionellen Vernetzung. Auch die Arbeit des Bühnenvereins möchte er weniger als Arbeitgeber- denn als Interessensverband verstanden wissen, dessen Mitglieder sich aktiv austauschen und notfalls – gerade mit den Theatern jenseits der Metropolen – solidarisieren. 

Eine der größten Herausforderungen liegt für die Kulturinstitutionen derzeit darin, eine Balance zu finden zwischen der Notwendigkeit, eine klare politische Haltung zu beziehen, ohne selbst fragwürdige diskursive Ausschlüsse zu produzieren und den gesellschaftlichen Dialog mit abweichenden Meinungen abreißen zu lassen. «Ich halte es für falsch, problematische Begriffe wie Zugehörigkeit oder Heimat aus dem kulturellen Denken zu verbannen», erklärt Khuon dazu. «Sie sollten ganz im Gegenteil Gegenstand einer kritischen künstlerischen Auseinandersetzung sein. Kunst richtet sich immer gegen eine Vereindeutigung von Welt. Gesellschaftsdiskurse sind auch Beziehungsarbeit, und dabei sollten wir nicht vergessen, dass wir sehr viele Erfahrungen nicht selber gemacht haben», resümiert Khuon.

Anja Quickert