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Berlinale is streaming

Neue Serien im Angebot

Die Frage stellt sich den internationalen Filmfestivals jetzt schon seit ein paar Jahren: Wie umgehen mit den Hochqualitätsfilmen, die nicht mehr fürs Kino produziert werden, sondern per Streamingdienst in den Wohnzimmern, auf Tablets und Handys landen, gerne in Form von Serien, die einen viel weiteren Erzählbogen stemmen und viel tiefer in ihre Figuren eindringen können? Das Festival von Cannes reagiert mit einem kategorischen Nein auf Netflix und Co, Venedig ließ Netflix im Wettbewerb zu und «Roma» gewann prompt die Goldene Palme. Die Berlinale wählt einen lauwarmen Mittelweg: Wenigstens ein paar Tage muss so eine Produktion im Kino gezeigt werden, dann darf sie beim Wettbewerb mitbieten, wie dieses Jahr das lesbische Liebesdrama «Elisa y Marcela» der spanischen Regisseurin Isabel Coixet. 

Zum Ausgleich aber gibt es seit 2015 die Neben-Sektion «Berlinale Series», in der sich auf der großen Leinwand ein erster Blick auf das werfen lässt, was wenig später gestreamt wird. Unter den sieben Serien, die in diesem Jahr im Zoo-Palast zu sehen waren, waren auch zwei deutschsprachige, so opulent in Szene gesetzt, dass man tatsächlich bedauerte, nur jeweils die ersten beiden Folgen im ganz großen Format sehen zu können: das Fritz-Lang-Remake «M – eine Stadt sucht einen Mörder» des Wiener Allrounders David Schalko; und die Dystopie «8 Tage» der Münchner Produktionsfirma Neuesuper.

Der Theater- und Romanautor, Serien-, Film und Fernsehregisseur Schalko hat den Fritz-Lang-Klassiker nicht nur von 1931 nach 2018, sondern auch von Berlin nach Wien verlegt – sich aber eine Reihe renommierter Berliner Schauspieler zur Realisierung dieses mehr als ehrgeizigen Projekts geholt. Unter den 130 Figuren, die Schalko zu seiner Schauermär eines zeitgenössischen Wien unter Herrschaft der Rechtspopulisten virtuos zusammengematcht hat, stechen Lars Eidinger und Sophie Rois heraus: Er der fremdgehende Vater der vermissten Elsie, sie die Unterweltkönigin und Bordellbetreiberin, die zur brutalen Anführerin einer die ganze Stadt ergreifenden Täterjagd wird (sie ersetzt den «Schränker» bei Fritz Lang, gespielt von Gustaf Gründgens). 

Elsie, so hieß auch das Kind, das in Fritz Langs Original als erstes von vielen verschwand. Schalko hält sich an Figuren und Eckpunkte des Lang-Plots, zitiert nicht nur einmal das berühmte Pfeifen der Melodie aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite und lässt immer wieder Ballons in den verschneiten Himmel über Wien  aufsteigen. Aber 2018 ist der Kommissar nicht mehr ein Mann, sondern die unablässig futternde Sarah Maria Frick, die sich mit größter Schlampig- und Ernsthaftigkeit in die Suche nach dem Serientäter wirft; der Polizeipräsident ist eine Präsidentin (die imposante Johanna Orsini-Rosenberg); und der jugendliche Innenminister (Dominik Maringer) erinnert in seiner gelackten Selbstverliebtheit nicht zufällig an Sebastian Kurz. Die Indienstnahme eines Kriminalfalls durch die Politik war schon in Fritz Langs ikonografischem Film als Vorschein des Faschismus zu lesen. Wenn in Schalkos Version der Minister in einer Pressekonferenz von den Geldern spricht, die die «Gutmenschenpolitik» für Migration statt für «ein flächendeckendes Überwachungssystem» ausgibt, ist der neue Ton gesetzt.

Die sechsteilige Miniserie überführt Langs expressionistisch beleuchtetes Schwarz-Weiß in fiebrige Farbigkeit und surreale  Szenen, etwa wenn Rois eine Sexarbeiterin zur Fellatio mit einem Kaktus zwingt oder der Minister sich nackt in seinem barocken Haus im Spiegel betrachtet, während er mit dem skrupellosen Verleger (Moritz Bleibtreu) die nächsten Fake News bespricht. Die ersten beiden Folgen machen Hunger auf mehr; der kann jetzt schon bei TVNOW, dem Streamingdienst von RTL, gestillt werden.

Was wäre, wenn ...? Wer wäre ich, wenn ich wüsste, in acht Tagen geht meine Welt unter, weil ein Asteroid auf Europa zujagt? Was würde ich tun, um meine Familie, mich, mein Hab und Gut in Sicherheit zu bringen? 

Diese Frage haben die jungen Drehbuchschreiber Peter Kocyla, Benjamin Seiler und Showrunner Rafael Parente zum Ausgangspunkt ihrer Serie «8 Tage» gemacht, deren erste Staffel von Stefan Ruzowitzky und Michael Krummenacher umgesetzt wurde. Sie schicken die Ärztin Susanne (Christiane Paul) und den Lehrer Uli (Mark Waschke) mit ihren beiden Kindern Leonie (Lena Klenke) und Jonas (Claude Heinrich) im Auto teuer bezahlter polnischer Schlepper auf die Flucht nach Russland, während Susannes smarter Bruder Herrmann (Fabian Hinrichs), glücklicherweise Regierungsbeamter, mit seiner schwangeren Frau Marion (Nora Waldstetten) eins der letzten Tickets in die USA ergattert und Abschied von Vater Egon (Henry Hübchen) nimmt, einem grummeligen Altkommunisten, der den nahenden Weltuntergang zum Anlass nimmt, endlich die Wodkaflaschen auszusaufen, die in seinem Häuschen in unveränderter DDR-Tristesse herumstehen. Nur der gewalttätige Kleinunternehmer Klaus (Devid Striesow) glaubt, vorgesorgt zu haben: Er hat einen Bunker unter sein Grundstück gebaut, in dem er seine lebenshungrige Teenager-Tochter Nora (Luisa Gaffron) gefangen hält. 

Ein ganzer Kontinent ist auf der Flucht, während der Asteriod unaufhaltsam auf die Erde zurast. Und die anderen Kontinente machen die Grenzen dicht. Familien werden auseinandergerissen, die Bürokratie treibt Menschen in den Wahnsinn, und jeder ist sich selbst der Nächste. Was tun, wenn alle Regeln außer Kraft gesetzt sind, alle Ziele lächerlich? Die letzten Erinnerungen zusammentragen? Feiern bis zum Untergang? Eine letzte Hoffnung im Glauben suchen? Atemlos treiben diese Fragen Figuren voran, mit denen sich der Zuschauer auch ohne die naheliegenden Analogien zu aktuellen Migrationsbewegungen mühelos identifizieren kann. Benedict Neuenfels’ Kamera jagt durch Wälder und über Bahngleise, zoomt sich nah heran an Gesichter, die hoffen und verzweifeln. Ob es bei acht Tagen und acht Folgen bleibt und der Asteroid die Serie beendet, wissen wir nach dem 1. März. Dann startet «8 Tage» auf Sky.

Barbara Burckhardt