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«Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode»

Betrachtungen über alte Männer, die Macht und den Wahnsinn

Von Michael Merschmeier

Es hat gedauert, bis ich mich erinnerte, woher ich diese Haarfrisur eigentlich kannte, lange vor Trump – jenen mit Luft und Locken gestützten Turban aus Resthaar, eine Lassofrisur, einmal um den Schädel geschlungen und mit einem unsichtbaren Druckknopf in Kopfmitte fixiert. Es war eben nicht Trump, der in den Neunziger ja noch einen recht respektablen Schopf hatte, nein, es war Bernhard Minetti als Lear in Klaus Michael Grübers Shakespeare-Inszenierung 1985 an der Berliner Schaubühne. Deformation professionelle. Naturgemäß. Aber doch auch der Beginn einer merkwürdigen Spurensuche.

Beim genaueren Wieder-Betrachten der «Lear»-Fotos von Minetti (zu sehen auch im Memory dieser Ausgabe) taten sich jedoch deutliche Unterschiede auf: Der Schauspieler hatte den Mut, seine hohe kahle Stirn deutlich vorscheinen zu lassen – das bei Kleist gelernte gleichzeitige Verhüllen und Enthüllen eines Fehlers, eines Geheimnisses war dem ausgepichten Tragikomiker und Charaktermimen Minetti nun mal gegeben. Bei Trump hingegen, dem Politclown und Fernsehstar, ist alles wie mit Drei-Wetter-Taft fixiert. Da gibt es kein raffiniertes Vorlugen der Wahrheit, nur plumpes Fake Hair, grauen Haarbeton, passend zum Betongold-gierigen Immobilien-Mogul. 

Timothy Snyder – der vor der Präsidentschaftswahl mit «Über Tyrannei» eine vorausahnende Analyse des «Trumpismus» aufzeichnete, ohne den beim Namen zu nennen – äußerte jüngst in einem Gespräch mit der «Süddeutschen Zeitung»: «Dass man bei Trump in eine Falle treten kann, ist tatsächlich eine Gefahr, die deshalb entsteht, weil Trump ein fiktionaler Charakter ist, wir aber versuchen, ihn immer mit der Realität zu messen, was dann nicht klappt. Wir haben es hier mit einem Genreproblem zu tun. Herr Trump ist ja nicht einmal ein erfolgreicher Geschäftsmann, er spielte nur einen in einer amerikanischen Fernseh­show.»

Könnte man als deutsche/r Theaterregisseur/In mit Vergegenwärtigungsambition eine aktuelle «Lear»-Inszenierung in Richtung Trump zuspitzen, fragte ich mich, so, wie es Peter Zadek vor bald 30 Jahren im «Kaufmann von Venedig» versuchte, indem er Gert Voss’ Shylock als Wallstreet-Banker sein aktenkofferbewaffnetes Unwesen treiben ließ? Oder sind die Unterschiede zwischen Lear und Trump nicht doch viel größer als die vermuteten Ähnlichkeiten? Hat man in ihm gar einen Negativabguss der Shakespeareschen Tragödie? Dort wird ja der König zum Kasper: zum wahnwitzigen Endspieler. In der Trump-Soap hingegen spielt Kasper den König: ein Autosuggestionsathlet mit twittrigen Fingern, der sich, obwohl mit goldenem Löffeln im Mund geboren, als Retter der Enterbten aufspielt und dabei tatsächlich Milliardäre beschenkt.

Also geht das? Lear als Trump (oder umgekehrt)? Ein Liar, das ist «The Donald» gewisslich – wohingegen Lear, in Trump-Terminologie, ein Looser ist. Aber in Lear steckt ja auch ein Trump. Ein machtvolles, ein egomanes Arschloch. Voll Selbstüberschätzung. Gerade das scheinbar hirnlose Verschenken «seines» Reiches ist ein Akt der Anmaßung, der Selbstüberhebung, denn eigentlich gehört das Reich ja nicht ihm, dem König, sondern der König dem Reich... Die Macht ist nur entliehen, ein Lehen von Gottes Gnaden, das man zu regieren hat, bis dass der Tod sie scheidet: König und Reich. Er ist kein absoluter Souverän gegenüber seinem Reich. 

Auch die Macht des Präsidenten ist nur auf Zeit verliehen, doch nicht auf Lebenszeit, sondern auf vier Jahre: ein Wahlmonarch, gefesselt durch Gesetze und den Wählerwillen. Checks & Balances. Genau jenem Leartum erlag Trump, nachdem er wider Plan und Erwarten gewählt war und ins Weiße Haus einziehen musste: Er hält sich und seine Macht für absolut – wie es sie vielleicht auch war in jenem Immobilien-Imperium, von dem wir ja gar nicht wissen, wie groß es wirklich war/ist (es gibt da viel Trump-l’œil). 

Lears Verschenken des Reiches an seine Töchter ist zugleich auch ein Akt des weinerlichen Flehens um Liebe: Der königliche Narziss will geliebt werden um jeden Preis, selbst den der Machtpreisgabe. Einen solchen Narzissmus kennt man von Trump auch, nicht aber den Verzicht fürs Geliebtwerden – und gar für andere! Er meint, mit Macht sei alles möglich. «Grab her by the pussy». Einen Wettbewerb jedoch, wer denn den Vater wohl am meisten liebe, zu entfachen, wie es Lear vor der Reichsverteilung unternimmt, das wäre durchaus nach Trumps Gusto. 

Als Cordelia, die jüngste und bis dahin meistgeliebte der Lear-Töchter, beim allgemeinen Reinschmeicheln nicht mitmacht, wird sie feuerköpfig enterbt und im Furor verbannt. Dass ihre speichelleckenden, vermeintlich ehrliche(re)n Schwestern Goneril und Regan dann umso mehr belohnt werden, passt ins Bild: Menschenkenntnis ist bei Herrschern notorisch unterentwickelt, auch, weil sie für ihre Fehler meist nicht oder erst sehr spät bezahlen müssen.

Trump hat fünf Kinder aus drei Ehen. Der jüngste Sohn ist wie die letzte Ehefrau, wie Melania, nur ein trophy piece. Tiffany, mit der mittleren Ehefrau Marla Maple in die Welt gesetzt, ist die deutlich Ungeliebte, die sich dem Vater entzieht und ihm nur widerwillig Reverenz erweist, wie etwa auf dem Inaugurationsparteitag der Republikaner im Sommer 2016. Sie wäre eine stimmige Cordelia, würde sie ihren Vater lieben – aber die Abneigung scheint gegenseitig zu sein. 

Ivanka aber, die Lieblingstochter, lebt in der bislang ungetrübten Gnade des Vaters, weil sie bei ihrem nicht nur in seinen Augen perfekten Aussehen zugleich die geschmeidigste Einflüsterin ist von freundlichen Lügen, kleinen Wahrheiten und erträglichen Zumutungen. Sie ist die inzwischen potenteste politische Beraterin Trumps, gemeinsam mit ihrem Mann Jared Kushner. Sie ist Goneril, Regan und Cordelia in blonder Dreieinigkeit – und dabei ersichtlich weder allzu ehrlich noch eine veritable Verräterin. An ihre beiden Brüder Donald jr. und Eric – alle drei sind Kinder der ersten Ehefrau Ivana –  hat Trump seine Wirtschaftsmacht  delegiert. Übergeben hat er sie wohl nicht wirklich. So regiert er schlecht, aber immerhin sichtbar die USA – und schlicht unsichtbar noch immer die Geschäfte des Hauses Trump. 

Auch Lear verschenkt sein Reich nicht wirklich. Er beansprucht die Krone weiter für sich. Und Wohnrecht in den Schlössern der Töchter. Und hundert Krieger, die in damaliger Zeit doch ein mächtiger Begleittrupp sind für einen, der sich angeblich von der Macht verabschieden will. Als ihn jedoch die Töchter nicht bei sich aufnehmen wollen samt seinem Tross, als der sich dann, mangels Beuteaussichten, mehr und mehr dezimiert, und als Lear darob allmählich im Wahnsinn versinkt, da hat er letztlich seine komfortable Königs-Burg gegen eine schäbige Hütte auf der Heide getauscht und nur die Narrenfreiheit gewonnen.

Genauso tauscht Trump sein Riesen-Apartment im goldenen New Yorker Trump-Tower gegen das Weiße Haus. Verglichen mit dem Prunk- und Protz-Palast ist das Domizil in der Pennsylvania Road nur eine bescheidenen Hütte inmitten des Washingtoner Sumpfes. In dem irrt er umher, so wird kolportiert – nächtens einsam im Frottee-Bademantel auf den leeren Fluren der Macht wie der irre Lear auf der sturmdurchtosten Heide.

«Es ist Fluch der Zeit, daß tolle Blinde führen.» (Aus «König Lear» W. Shakespeare)

Lear und Trump umgeben sich gern mit Narren. Lear hat, wie es sich gehört, einen Hofnarren. Der tritt erst auf, als Lear das Reich verteilt hat und sein Fall beginnt, und tritt wieder ab, sobald den König der Wahnsinn ereilt hat. «Man muss es nur sehen und wahrhaben wollen: Auch in diesem Wahnsinn ist Methode, (er) ist der Übertritt zur Position des Narren», so Jan Kott in «Shakespeare heute». Und dann zitiert Kott die Definition des Narren, die der polnische Philosoph Leszek Kolakowski in «Der Priester und der Narr» Anfang der 60er Jahre formulierte:

«Der Narr ist derjenige, der zwar in der guten Gesellschaft verkehrt, ihr aber nicht angehört und ihr Frechheiten ins Gesicht sagt; jener, der alles anzweifelt, was als selbstverständlich gilt; gehörte er selbst zur guten Gesellschaft, so könnte er das nicht tun – in diesem Fall wäre er höchstens ein Salonärgernis: Der Narr muss außerhalb der guten Gesellschaft stehen, sie von der Seite betrachten können, um die Nicht-Selbstverständlichkeit ihrer Selbstverständlichkeiten und die Nicht-Endgültigkeit ihrer Endgültigkeiten zu entdecken; andererseits muss er in der guten Gesellschaft verkehren, um ihre Tabus zu kennen und Gelegenheit zu haben, ihr Frechheiten ins Gesicht zu sagen.»

Ist das nicht eine perfekte Beschreibung des Präsidentendarstellers Trump? Seines Verhältnisses zur Washingtoner Politikerkaste und den von ihm gehassten und gleichzeitig zwanghaft genutzten Medien? Seiner Verteufelung von «Fake News» und der gleichzeitigen Verbreitung von «Alternativen Fakten»? Natürlich kann man einwenden, Trump spiele den Narren nur – nicht zuletzt, um andere zum Narren zu halten, zumal seine Wähler; und er gehöre selbst «der guten Gesellschaft» an. Doch in der wirklich guten Gesellschaft, wo nicht allein Betongold zählt, war Trump nie zuhause. Er galt dort als Parvenu. Und er war immer zu laut. Zu «sichtbar». 

Und ist dann, wenn all das so ist, nicht die White-House-Soap, in der Trumps mittelmäßige Familien-Bande mit Hofschranzen wie Bannon et al. kämpft(e), eine Art Westentaschen-Shakespeare, groß nur insofern, als im Weißen Haus noch immer eine Weltmacht regiert wird? Und ist Trump nicht doch der inkarnierte Narr, der alle Normen bricht und gerade deshalb Zuspruch findet? Wird das Weiße (und zuvor mitunter auch weise) Haus womöglich bald zum Narrenhaus? Ein Intrigenstadel ist es schon jetzt, folgt man dem Bestseller «Fire and Fury» von Michael Wolff.

Als unlängst nicht nur, wie üblich bei Präsidenten, der Gesundheits-, sondern gleich auch Trumps Geisteszustand untersucht worden war, twitterte der hernach, er sei nicht nur geistig und körperlich völlig gesund, sondern sehr klug, ja: «ein stabiles Genie». 

Nicht zuletzt das Unberechenbare als Geistes-, als Lebens- und Herrschaftsweise verbindet Trump und Lear. Beide sehen die Realität nur mit ihren Augen, sind ebenso blind für Wirklichkeiten wie hörig für Schmeicheleien. Beide lieben «Truthiness»: gefühlte Wahrheiten. «Theater ist kontrollierter Wahnsinn», sagt Heiner Müller. Trumps Politik ist ungebändigtes Kasperltheater, in dem hoffentlich nicht – wie im «König Lear» – am Ende fast alle Figuren tot auf der Strecke bleiben. Ein Happy End – das schiere Aussitzen der vierjährigen Präsidentschaft durch das erduldende Publikum – kann nur glücken, solange kein anderer Kasper wie der fette Kim in Nordkorea «Lear» liest und draus seine ganz eigenen Schlüsse zieht.

Was das deutschsprachige und europäische Theater im «Lear» entdeckt zu haben glaubt während der letzten Dekaden, kann man im Memory spielend sehen und nachlesen. Was Claus Peymann («Lear»-Premiere mit Martin Schwab Ende Februar) darin erkannt zu haben glaubt, darauf sind wir gespannt: Immerhin ist auch er ein achtzigjähriger Mann, wie Lear zu Beginn der Tragödie, der allerdings sein Reich, das Berliner Ensemble, lang nicht (ver)lassen wollte und beim unausweichlichen Ende dann doch am liebsten verbrannte Erde hinterlassen hätte. Peymann kehrt nun als «freier» Regisseur (erstmals seit 40 Jahren nicht sein eigener Chef) für seine Shakespeare-Inszenierung zurück nach Stuttgart, zur ersten wichtigen Station seiner glorreichen Herrscherkarriere vom Bochumer Intendanten über den Wiener Burgtheaterdirektor zum ewigen Brecht-Nachfolger. Und jetzt schauen Sie sich mal Clausens krause Haarfrisur an. Genau. Der Kreis schließt sich.