In Stuttgart gibt es Ballett, Ballett, Ballett – und diese Choreografin, die wie im Alleingang das Fähnchen des zeitgenössischen Tanzes hochhält. Durch eine freie Szene, die praktisch am Verstummen ist, hallen ihre Stücke wie kleine Explosionen. Gleich mit ihrem Erstling «zwischen häuten» räumte Nicki Liszta 2008 den Stuttgarter Theaterpreis für die beste Tanzproduktion ab. Seitdem hält sie in der Stadt von Ballettwunder und Gauthier Dance das Fähnchen des zeitgenössischen Tanztheaters hoch, wirft Körper gegen Wände und lässt Hälse von Beinscheren zudrücken, reißt das Publikum mit rohem Fleisch oder Durch-die-Nacht-Stolpern aus seiner passiven Zuschauerhaltung. Man ist immer ein bisschen auf der Hut in diesen Stücken, zu oft passiert Überraschendes, kippt Idylle in Gewalt und öffnen sich Abgründe hinter den Fassaden. Lisztas Kunst verkleinert den Abstand zwischen Künstler und Publikum, sie ersetzt ästhetisches Betrachten oder passives Hinterhergrübeln durch Situationen des Schreckens und der Distanzlosigkeit, provoziert eine körperliche Reaktion auf das Gesehene.
Abgründige Dynamik
Die Choreographin Nicki Liszta
Wie fühlt sich das an, so fast allein auf weiter Flur? «Man spielt schon mal mit dem Gedanken, soll ich nach Brüssel ziehen oder nach Berlin ...?», sagt die Choreografin mit einem lachenden und einem weinenden Auge. «Es ist natürlich in einem gewissen Sinne einfacher, weil hier nichts ist. Aber dadurch ist man auch alleine. Was ich ehrlich vermisse, ist der Austausch, es gibt mittlerweile nur noch eine winzige freie Szene in Stuttgart.» Nicki Liszta, getauft wurde sie auf den Namen Nicole, stammt tatsächlich direkt aus der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Als kleines Mädchen wollte sie Ballerina werden, dass sie als großes Mädchen dann nach Holland ging und an der Fontys Dance Academy in Tilburg Tanztheater studierte, lag nicht unbedingt an einem Erweckungserlebnis, erzählt sie: «Pina Bausch gab es wohl, aber das war in meiner Welt nicht vorhanden, weil zu weit weg.»
Ihr künstlerisches Selbstbewusstsein entstand eher aus der Reibung mit dem Vorhandenen und Erlernten als durch Vorbilder, vielleicht wirkt es deshalb so authentisch: «Mir war immer klar, dass mir diese engen Normen zu straff sind, dass ich eigentlich nach mehr Inhalt suche, nach zeitgenössischeren Themen. Ich wollte nicht so eine stilisierte Anguck-Nummer fabrizieren.» Die fertige Choreografin kam nach Stuttgart zurück und stellte beim Kulturamt «einen ganz fürchterlichen Antrag, total verkopft». Aber sie traf auf einen Theaterdezernenten mit der Überzeugung, dass Stuttgart frisches Blut braucht, und bekam ihre erste Förderung. Gemeinsam mit der Tänzerin und Produzentin Isabelle von Gatterburg und dem Komponisten Heiko Giering gründete sie dann die backsteinhaus produktion, mit der sie seitdem ihre Stücke realisiert. Seit 2016 arbeitet Liszta, inzwischen dreifache Mutter, in einer Kooperation mit der Rampe, einem Autorentheater der Stuttgarter Off-Szene. Die Zusammenarbeit erweist sich als ideal, den Hang zu Text und Schauspiel hatten Lisztas Stücke schon immer: «Wir profitieren von der Verortung, von der Infrastruktur, und die Rampe profitiert vom Tanz, dem neuen Genre.»
Selbst wenn sie für einige ihrer Stücke mit einem fertigen Szenario anrückt, so entstehen sie doch immer im engen Austausch mit den Darstellern. Selten sind das nur Tänzer, meist auch Schauspieler oder Sänger, immer spielen ihre Musiker eine Rolle. Sie verlangt viel von ihnen, geht mit ihrem knallharten Realismus oft an die körperlichen und wahrscheinlich auch psychischen Grenzen. Die Darsteller in Nicki-Liszta-Choreografien werfen sich auf den rauen Steinboden, klettern an Regenrinnen in den ersten Stock hinauf, hängen verkehrt herum wie Fledermäuse im Dunkeln oder hangeln durch einen Raum voller Glasscherben. Sie spielen Alphorn, krabbeln einen halben Abend lang nur auf den Knien oder bringen, wie im Stück «Die Anderen», ihr eigenes Kleinkind mit auf die Bühne. «Die Leute, die sich da bewerben, die suchen das schon auch.»
Wie bewahrt sie ihre Tänzer vor Verletzungen? «Der Schutz besteht darin, dass sie das selbst kreieren und immer selbst abschätzen. In ‹How to sell a Murder House› etwa hat sich Ariel Cohen eine Treppe hinuntergeworfen. Ich schildere das Bild, was ich mir vorstelle, die Atmosphäre. Dann bietet sie etwas an, lässt sich erst mal ganz langsam fallen, versucht irgendwie Freund mit dieser Treppe zu werden. Sie entwickelt das nach und nach, dass es für sie und ihren Körper passt. Diese Verantwortung, die man den Tänzern gibt, ist auch das Hauptkriterium, um sie zu schützen.»
Weil die freie Szene in Stuttgart im letzten Jahrzehnt ständig auf der Suche nach passenden Bühnen und einem festen Standort war, machte Liszta aus der Not eine Tugend: An sieben verschiedenen Orten war sie bisher mit ihren Produktionen unterwegs, in all den Sälen, wo sich die bis dahin noch vorhandenen Kollegen wie Nina Kurzeja, Fabian Chyle oder Christine Chu so einmieteten – aber eben auch in Höfen und Hallen, auf narbigem Steinboden, in einem leeren Mietshaus im Problemviertel der Stadt oder auf dem riesigen Gelände der ehemaligen IBM-Zentrale. «Eigentlich finde ich es ja interessanter, an anderen Orten zu spielen, in Räumen, die schon kontextualisiert sind. ‹Superbia› war 2011 das erste On-Location-Projekt, das war ein ganz hässlicher Betonboden mit Schrammen in den Stuttgarter Wagenhallen. Da habe ich Lunte gerochen, das war auch das erste Mal, dass ich das Publikum mitinszeniert habe. Da hab ich gemerkt, das will ich wieder machen: Wenn es hier eh keine Räume gibt, dann sind wir ganz frei.»
Weder das leere Mietshaus, dessen acht Wohneinheiten Liszta und ihre Mitstreiter mit Installationen aus Schmetterlingen, Nabelschnüren oder Glasscherben füllten, noch die weiten Fluchten verlassener IBM-Luxusbüros waren beheizt, bei den Proben saßen sie in Schlafsäcke eingemummelt und bemühten sich, irgendwie warm zu bleiben. Die Zuschauer kletterten treppauf, treppab, folgten fremdartigen Wesen durch den nächtlichen Garten oder in den Keller, klebten wie Spanner an Fensterscheiben oder sahen sich bis auf wenige Zentimeter Abstand mit einem nackten Körper konfrontiert. Das Herausreißen des Publikums aus seinem üblichen Verhalten, dem puren Dasitzen und Zuschauen, war anfangs gar nicht unbedingt geplant: «Auch das ist tatsächlich aus dieser Not heraus geboren – nicht nur das Ensemble - anders bewegen, auch die Zuschauer!»
Oft geht es in Lisztas Stücken um die Dynamik innerhalb einer Gruppe, einer Familie, Sekte oder, wie zuletzt, eines Wolfsrudels – um Liebesverweigerung, Missbrauch, Härte, Fanatismus oder auch Zusammenhalt: «Mich interessiert dieser Mikrokosmos, in dem Gewalt, Machtverhältnisse und Ausschlussprozesse ablesbar sind, die man auf die Gesellschaft projizieren kann. Auch die Solidarität ist in diesem Zusammenhang für mich interessant, sie ist gerade heute ein wichtiger Aspekt in unserer immer radikalisierteren Gesellschaft.»
Wie entsteht die abgründige Dynamik ihrer Stücke, die oft harmlos, ja fast idyllisch anfangen? «Das liegt ein wenig daran, dass ich eigentlich immer das Bedürfnis habe, den Zuschauer erst mal zu umarmen und mitzunehmen. Natürlich ist der Bruch viel stärker, wenn man zunächst empathisch ist mit den Darstellern. Für mich ist das Wichtigste tatsächlich, den Zuschauer zu erreichen – mit was auch immer! Für mich soll Theater nicht nur so da vorne bleiben. Es gibt Leute, die zu mir kommen und sagen: Ich habe es nicht ausgehalten, es hat mich wahnsinnig gemacht. Sag ich: Ja super! Es gibt immer noch so viele Tabus in unserer Gesellschaft. Warum soll das Theater da mitmachen und immer nur auf einer rein kognitiven Ebene funktionieren? Warum kann man nicht direkt Dinge thematisieren und Ekel hervorrufen? Das ist doch auch ein Gefühl!»
Anders als in der klassischen Blackbox des Theaters wird der Zuschauer, so Liszta, in einer ungewohnten Location zwangsläufig mitbewegt: «Dadurch öffnet sich eher eine emotionale Reaktion als eine kognitive. Bei der Arbeit mit dramatischen Texten wiederum benennt die Sprache schon direkt die Themen, dann geht es eher darum, der Sprache Räume und Bilder zu geben. Als Zuschauer ist man erst mal kognitiv angesprochen, haptische oder emotionale Reaktionen sind viel überlegter und passieren zuerst den Gang der Vernunft.»
Selbst auf Außenflächen oder in räumlich zersplitterten Örtlichkeiten erklingt die Musik zu Lisztas Stücken fast immer live, ob als schräge Klezmer-Kapelle oder in elektronischen Klangschichten. «Das ist für mich sehr wichtig. Der Musiker ist für mich genauso ein Darsteller wie der Tänzer auf der Bühne.» Beim neuesten Stück «Wolfgang» etwa benutzt Heiko Giering ein LKW-Führerhaus, das zum Bühnenbild
gehört, höchst virtuos und mit unheimlichem Effekt als Percussion-Instrument.
Wäre es nicht schön, die Tänzer und Musiker mal fest zu engagieren? Seit zehn Jahren aber lebt Liszta selbst von Projekt zu Projekt, könnte sie sich vorstellen, an ein Staats- oder Stadttheater zu gehen? «Ich würde es wahrscheinlich für ein paar Jahre machen, aber ich würde -relativ schnell merken, dass ich wieder ausbrechen muss. Wir sind so privilegiert, weil wir frei arbeiten können. Ich arbeite gerne mit Stadt- oder Staatstheatern, das ist toll, wenn man Gewerke hat und Werkstätten, das erleichtert alles sehr. Aber diese Reduktion der künstlerischen Freiheit, die da zwangsläufig ins Spiel kommt, das möchte ich nicht immer machen. Weil da eben immer ein Obergeneralintendant sitzt, der sagt: ‹Das muss ja auch für die Aboleute passen›. Deshalb sehe ich meine freie Arbeit als Privileg an und möchte nicht jammern. Ich finde das eher toll, alles selbst zu entscheiden.»
Was sie genießen würde als Chefin einer Tanzsparte, das wären Gastspiele. So könnte sie auch ein Publikum für die zeitgenössische Schiene in Stuttgart heranziehen, ihr ist es hier immer noch zu ballettlastig: «Ich war fassungslos, als ich nach Holland gezogen bin zum Studium, wo jeder Mensch sich modernen Tanz anschaut, so wie man hier ins Kino geht. Da sitzen Oma und Opa mit den Kids, und die schauen sich die experimentellsten zeitgenössischen Dinge an! Das ist auf einem ganz anderen Stand angekommen ...» Wie gerne würde sie Kollegen nach Stuttgart einladen, Peeping Tom zum Beispiel oder Künstler, «die auf der gleichen Ebene arbeiten wie wir. In Belgien gibt es einfach wahnsinnig gute Sachen.» Bis dahin mischt sie die Stuttgarter eben alleine auf.