Wir Vatermörder
Nun Jürgen Flimm. Und jedes Mal denke ich: Hätte ich doch bloß noch angerufen oder wäre nochmal vorbeigefahren; aber am Theater ist ja bekanntlich immer Alarmzustand, so dass man das Gefühl hat, nie so richtig wegzukommen, und dann vergisst man, den Kontakt zu halten zu Menschen, die einem mal lieb und wichtig waren. Jürgen Flimm war nie lieb, aber wichtig, und er hat den Kontakt immer gehalten.
Manchmal hatte ich den Eindruck, er hat diese große Aufgabe, eine Regieschule zu gründen, auf sich genommen, um junge Menschen um sich zu haben, die ihn und seine Kunst in Frage stellen und ihn unentwegt herausfordern würden. Leicht gemacht haben wir es ihm nie, es gab eigentlich immer Streit – sachlich, inhaltlich geführt, und manchmal laut, aber ästhetisch kamen wir nie so recht zusammen.
Für alle, die Mitte der neunziger Jahre noch nicht dabei waren, sei kurz gesagt, dass Jürgen Flimm als Intendant am Thalia Theater handwerklich gut bis großartig gebaute Inszenierungen von «richtigen» und fast immer klassischen Theaterstücken auf die Bühne brachte und dass wir einmal pro Woche in seinem Intendanten -büro saßen, um von ihm dieses Handwerk zu erlernen, während ein paar hundert Meter weiter am Deutschen Schauspielhaus Frank Baumbauer so etwas wie die erste große Theaterrevolution ausrief, die ich miterleben durfte: Textflächen von Elfriede Jelinek, Marthalers «Wurzelfaust» mit vier Gretchens und einem Faust, der im berühmten «Habe nun ach»-Monolog nur noch Vokale raushustete, keine Konsonanten mehr sprach. Das konnte Jürgen nicht verstehen: Was soll das sein? Ein Stück von Jelinek war für ihn kein lesbarer, geschweige denn inszenierbarer Theatertext. Ein Stück mit dem Titel «Kritik in Festung» von Rainald Goetz? «Was wird denn da für eine Geschichte erzählt?»
Jürgen war da. Er kam zu unseren Generalproben und Aufführungen. Meist etwas erschöpft, gerade noch aus einer Sitzung oder von der eigenen Probe, aber trotzdem gut gelaunt, setzte sich in den Zuschauersaal, wirkte ab und zu, als würde er gleich vor Müdigkeit einschlafen und beugte sich hin und wieder nach vorne mit meinem Lieblingsspruch aus der Zeit: «Falk, dat kannste so nicht machen.» Denn Jürgen hatte noch klare Vorstellungen davon, was auf dem Theater funktioniert und was nicht. Als wir Regieschüler (so nannte man das damals) von ihm den Auftrag bekamen, Szenen aus «Nathan der Weise» zu inszenieren, konnte ich damit absolut nichts anfangen und entwickelte stattdessen mit der Schauspielerin Bibiana Beglau eine Art Computerspiel für die Bühne und schickte sie als virtuelle Figur durch ein Text- und Gestenlabyrinth. Da schrieb er mir einen Brief und drohte mir an, mich aus dem Regie-Institut rauszuschmeißen, denn ich sei hier, um das Regiehandwerk zu lernen, und bei so einem selbstgebastelten Projekt würde ich nichts lernen, außerdem bilde er keine Autoren, sondern Regisseure aus. Auch das Konzept des Autorregisseurs, der eigene Projekte entwickelt, war damals noch nicht so recht bekannt in Hamburg.
Es gehörte aber eben auch zu Jürgens großzügigem und letztlich liebevollem und offenem Wesen, dass er dann zur Premiere genau dieses Projekts, für das er mich aus der Schule werfen wollte, den Regisseur Peter Sellars mitschleifte und die Arbeit dann anschließend an sein Haus holte und für einige Wochen in den Spielplan aufnahm. Ihn hatte vor allem Bibiana Beglaus Performance begeistert. Für Jürgen waren die Schauspieler immer das Herzstück des Theaters. Egal, wie nah am Text oder wie abgedreht das Konzept, letztlich müsse der Schauspieler die Verbindung zu den Zuschauern herstellen und sie emotional und intellektuell erreichen. Das war vielleicht die wichtigste Lehre, die er an mich weitergab. Wenn das glückte, dann ließ sich Jürgen auch von Inszenierungen überzeugen, die meilenweit von dem entfernt lagen, wo er sich künstlerisch zuhause fühlte.
Jürgen konnte offen über sein eigenes Scheitern sprechen, und dabei habe ich als Studierender am meisten gelernt. Welcher Regisseur kann das schon? Mit den Schülern analysieren, warum die eigenen Arbeiten künstlerisch hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben waren, was da im Prozess oder bereits in der Konzeptionsphase schiefgelaufen war.
Jürgen war treu. Immer wieder lud er mich und Studienkollegen von mir ein, an seinen Häusern zu inszenieren. Ich glaube, er wünschte sich, dass wir Regieschüler ihn vor allem als Künstler schätzen und verehren würden. Stattdessen haben viele von uns ihn als Vaterfigur gesehen, an der wir uns abarbeiten, als König, den wir ästhetisch vom Thron stoßen und in dessen Palästen wir aber trotzdem arbeiten wollten.
Als ich neu auf die Schule kam, schien es damals die einzige Chance für angehende Regisseure zu sein, erst als Regieassistent zwei Spielzeiten «zu dienen» (das wurde damals wirklich so gesagt) und dann am Ende in einem kleinen Studioraum ein Stück, das die Dramaturgen ausgewählt hatten und das keiner der «richtigen» Regisseure inszenieren wollte, mit Schauspielern, die niemand anderes besetzt hatte, mit einem geringen Budget auf die Bühne zu bringen. Viel Glück! Und entsprechend dieser Marktlage sollten wir an der Schule darin ausgebildet werden, Ansagen und Angebote möglichst gut umzusetzen.
Aber das wollten wir nicht. Wir wollten unsere eigenen Sachen machen. Und «dienen» wollten wir sowieso nicht. Und diese Ablehnung dessen, was an uns herangetragen wurde, gepaart mit einer wahrscheinlich zuweilen enervierend großen Selbstgewissheit, dass unsere Projektideen einfach aufregender und zukunftsweisender waren als alles, was wir zu der Zeit am Thalia Theater auf der Bühne vorgesetzt bekamen, und das zu laute Loben der postdramatischen Revolution am konkurrierenden Schauspielhaus führte immer wieder zu intensiven Auseinandersetzungen und Streitgesprächen, aus denen dann am Ende eine Generation neuer Regisseurinnen und Regisseure hervorgegangen ist, auf die der liebe Jürgen dann später – milder, liebevoller, herzlicher geworden – mit großem Stolz blickte: Meine Jungs und Mädchen! Die hab ich ausgebildet!
Dass er es auf sich genommen hat, diese Kämpfe mit uns jahrelang zu führen, und uns in den Jahren nach unserem Studium die Treue gehalten und das Interesse an unseren Arbeiten nie verloren hat, dafür bin ich Jürgen Flimm dankbar. Ruhe in Frieden, lieber Jürgen. Ich habe sehr viele schöne Erinnerungen an Dich. Danke für alles.
Theater heute 4 2023
Rubrik: Nachruf, Seite 35
von Falk Richter
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