Unter Inseln

Das Festival «Dramen der Gegenwart #2» im Berliner Ballhaus Ost und im Literarischen Colloquium surft auf Textflächen und kokettiert mit Insidertum

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Mancher sitzt der Schalk im Nacken. Selbst im höheren Alter noch. Ginka Steinwachs zum Beispiel: Sie hat an einem Tisch im Ballhaus Ost Platz genommen, um einen «Poetikimpuls» zu platzieren, und also wirft sie, eher locker als impulsiv, immer wieder einen Ball ins Publikum. Weil dies ja schließlich ein «Ball-haus» sei. Wir, die Zuschauer, bringen ihn wie ihre Balljungen und Ballmädchen zurück. Schöne Definition eines Raumes durch Sprache und Performance.

Aber was ist eine geglückte Metapher gegen die Gründung einer Künstlervereinigung? Wir sind bei der zweiten Auflage der «Dramen der Gegenwart», einem kleinen Festival, mit dem der Verband der Theaterautor:innen in die Öffentlichkeit tritt. Dieser Verband wurde 2020 ins Leben gerufen, in der Hochphase der Corona-Pandemie, als sich die Dramatiker:innen mit dem Wegfall ihrer (ohnehin nicht eben üppigen) Tantiemen als besonders vulnerable Gruppe erfahren mussten. Im aktuellen Vorstand des Verbands finden sich bekannte Köpfe: Felicia Zeller, David Gieselmann und Maxi Obexer. Das Festival selbst wurde aus einer Untergruppe, der «AG Aktionen», heraus entwickelt.

«18 Monate» habe die Vorbereitung in Anspruch genommen, sagten die beiden Verantwortlichen, Vera Schindler und Paul Brodowsky, bei ihrer Begrüßung im LCB – Literarisches Colloquium Berlin (das mit dem Ballhaus Ost Veranstaltungsort war). «18 Monate und einige Flaschen Crémant.» Crémant ist derzeit so etwas wie das It-Getränk der Künstlerszene. Was vor allem Künstler wissen. Womit der beschmunzelte Gag gleich den Charakter der Veranstaltung preisgab: Es war ein Insidertreffen. Man kennt sich, man perlt auf gleichem Level. Fürs konkrete Programm waren Patinnen und Paten gebeten worden, ihnen vertraute Poetiken – oder auch nur vertraute Poeten – einzuladen.

Kollisionen
Das Publikum war ein wenig vergessen worden. Schon in der Präsentation. In viel zu engen Räumen im LCB quetschte man sich für kleine «Kollisionen» genannte Performances, in denen sich je eine schreibende Künstler:in mit einer bildenden oder musizierenden Person zusammenspannte. Da ließ dann Nine Budde den Plattenspieler rotieren und klickte am Diaprojektor Bildwerke der Abstraktion durch, während Ivana Sajko am Begriff der «Kollision» entlang über Paarkonstellationen extemporierte. Charakter: Fingerübung. Nicht anders bei Alexandra Pâzgu, die den Besuch einer Lesung von Jacques Rancière zum Anlass nimmt, in Reflexionen über Mehrsprachigkeit in der kosmopolitischen Moderne abzutauchen. Parallel laufen per Beamer Piktogramme von Alexandra Zidariu.

«Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen», heißt es einmal in Pâzgus Text. Aber natürlich wird keine Geschichte erzählt, weder über Rancière noch über irgendwas. Die Poetik, die sich hier ausspricht, ist flächig, mäandernd, unszenisch, durch und durch subjektiv aufs Ich zurückfallend und jedes Mal schnell abreißend, sobald sich ein Anflug von Struktur breitmacht. Ein Rätsel für Hörerinnen, eine zu verfolgende Spur, gar eine Reise, auf die man imaginativ mitgenommen werden könnte, ist nicht angelegt. Geradezu folgerichtig kruder&dorfmeistert die begleitende Elektromusik, die auf dem Festival vorherrscht, in gleichförmiger Track-Ästhetik dahin.

Prägnant wird diese Dichtkunst allenfalls mit dem performativen Auftritt. Vom ersten Tag blieb der von Sivan Ben Yishai eingeladene Amit Jacobi mit dem schillernden Vortrag seines Textes «Homosphere» in Erinnerung, wie er in ledernen SM-Dessous höchst kokett am Mikrofon stand und von seinem kindlichen Faible für Fliegersoldaten des israelischen Militärs sprach, den Weltuntergang beschwor, der Weltraumfahrerei huldigte, wie er für die «Brustmuskelbewegung» der Männer im Fitnessstudio schwärmte und gelegentlich eine griffige Sentenz zur entpolitisierten Gegenwart ins Mikro schnalzte: «No home at home, no political agenda, no comfort in privilege, no direction besides aging.»

Systemfrage
Mit dem Umzug ins Ballhaus Ost am zweiten Festivaltag wurde es dann performativ gediegener. Mit der besagten wohltuenden Ausnahme von Ginka Steinwachs und ihren Ball(haus)spielen. Ansonsten: Lesungen am Tisch, mit verteilten Rollen, alle solidarisch von Autor:innen übernommen, gemäß dem Titel des Programmteils «The Playwright is Present». Zur Unterstützung ein wenig Cello und Elektrosounds. Aber textlich weiter alles schön in sich verkapselt oder, was aufs Gleiche herauskommt, in großer anspielungsreicher Offenheit vor sich hin strömend. Gemäß dem Diktum, das Sivan Ben Yishai zur Einleitung von Mehdi Moradpour übermittelt: «Ich glaube zu wenig an Systeme, um ein konsistentes Drama zu schreiben.» So klang die Dekonstruktion in den 1990ern. Wäre an der Zeit, mal wieder etwas genauer Systeme, die ja allerorten sehr effektiv Wirklichkeit strukturieren, zu studieren.

Da gibt es also eine schwule Begegnung in einem versunkenen Hafendistrikt, die Mazlum Nergiz in einem Prosatext mit eingelassenen Dialogen «Am Fluss» aufruft. Oder man erlebt in «Marathon» von Ralph Tharayil Figuren auf Laufbändern, die gedanklich bei der iranischen Frauenbewegung abheben und irgendwo bei einer fiktiven intersektionalen Gruppierung namens «Pussy Terror» landen, wobei der auf den ersten Blick dialogische Text als Vehikel für längliche Erzählpassagen herhält (situative, szenische, genuin dramatische Fantasie ist auch hier Fehlanzeige).

Figuren, die bei einem Gedanken verweilen mögen, trifft man nicht. Auch nicht in dem an sich konkretesten Drama des Festivals: Annett Gröschner hat als Patin Katharina Schlenders «Die Statistiker» ausgewählt, eine Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte. In einer Nachwende-Gegenwart treffen sich besagte Statistiker, um auf einen legendären Skandal ihrer Studentenzeit zurückzublicken: ihre von der SED erzwungene Distanzierung von B.K. Tragelehns Uraufführung der «Umsiedlerin» von Heiner Müller an der Studentenbühne ihres Instituts 1961. Wenn Gröschner und Schlender den Text im Ballhaus Ost lässig unterkühlt rausnölen und mit guten Kanten versehen, dann kriegt das eine Nähe zum historischen Sujet. Aber auf Dauer können sie doch nicht kaschieren, dass die Figuren in ihrer Lebensbilanz zu «Schuld und Sühne» erstaunlich erkenntnisarm bleiben, ihr Diskurs entsprechend blässlich.

Privatsprachenlogik
Die Recherche, die Schlender für ihr Projekt unternahm, stellt eine Ausnahme dar. Historisches, Politisches, Welthaltiges kommt ansonsten allenfalls im Modus der hingehauchten Anspielung vor. Als leises Flackern im Kopf eines Ichs, das sich bevorzugt doch über Naheliegendes und unmittelbar Erfahrenes aussprechen will. Der Solipsismus dieser Dramatik bekümmert. Ihren Höhepunkt findet die Tendenz beim britischen Queer-Duo «Once We Were Islands» (Chris Gylee and Aslan), das sich für sein Stück «The Crossing» einer eigens ersonnenen Privatsprache bedient: Damiá, so ihr Name, gilt ihnen – auch im Alltag – als maximal diskriminierungsfreie, queere Sprache, die sich, wie es im Nachgespräch heißt, besonders gut fürs Reden über Beziehungen eigne. Entfernt klingt sie nach Finnisch oder Ungarisch und wird für alle Nichteingeweihten, also alle außerhalb des Künstlertandems, dankenswerterweise übersetzt. In «The Crossing» dient sie vor allem dem Sprechen über die Bühnensituation und über die Sprachfindung.

«Wittgenstein, hilf!», möchte man ausrufen. Es war ja mal sein aufklärerisches Projekt, solche erkenntnistheoretisch wie sozial bedenkliche Privatsprachenlogik zu kritisieren und damit dem radikalen Individualismus der Moderne entgegenzutreten. Gegen das Kämmerchen des Denkens, für den Marktplatz und den Austausch. Wie ist dieses Wittgensteinsche Projekt der Offenheit uncool geworden? Wann hat die Dramatik den Weg in die totale Isolation gewählt? Und wer holt sie raus? 


Theater heute November 2023
Rubrik: Magazin, Seite 67
von Christian Rakow

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