Selbstbebilderung

Matthias Hartmann inszeniert Tschechows «Iwanow» in Bochum

Narzissmus ist eine Zeitkrankheit. Keine individualpsychologische Charakterstörung, sondern eine soziologische Diagnose. Ökonomisch verbrämt als «Selbstmanagement», philosophisch kaschiert als «Selbstsorge» oder «Freundschaft mit sich selbst» wird von allen Seiten die Steigerung der Konzentration auf sich selbst gefordert. Jede Situation, in die wir geraten, jede Handlung, die wir tun, sei nur ein Spiegel unserer selbst, wird uns gesagt. Vor allem sich selbst zu lieben, ist dann nur rational.

Narzissmus ist die Norm, ist die Form von Realitätsverlust, die die Wirklichkeit uns heute nahe legt.

Tschechows schlaffer Anti-Held Iwanow stammt aus einer anderen Zeit, aus der der enttäuschten reformerischen Hoffnungen der russischen Intelligenz im zaristischen Russland, ein ehemals volkstümlerischer Aristokrat, nach jugendlicher Erregung vorschnell ermüdet. Dieser träge «überflüssige Mensch» ist aber auch ein Spiegel für sich selbst bespiegelnde, hektische, flexibilisierte Menschen. 

Matthias Hartmann wählt für seine Bochumer Inszenierung eine spätere Fassung Tschechows, in der Iwanow nicht sang- und klanglos tot vom Stuhl fällt, wie in der Erstfassung, sondern sich mit dramatischem Akzent ...

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Theater heute Februar 2005
Rubrik: Aufführungen, Seite 24
von Gerhard Preußer

Vergriffen
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