Poesie der Vielen

Wie Fabian Hinrichs als Juror des Alfred-Kerr-Preises für den «souveränen Schauspieler» plädiert und sich zugleich in die Tradition konservativer Wutreden stellt

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Zu den Höhepunkten der Lithurgie des Berliner Theatertreffens gehört am letzten Tag die Verleihung des Alfred-Kerr-Preises der gleichnamigen Stiftung, den – so will es die Tradition – stets ein*e namhafte*r Schauspieler*in eine*r möglichst junge*n Kolleg*in verleiht. Direkt danach findet die öffentliche Schlussdiskussion der Kritikerjury statt – ein Umstand, der fast rituell dazu führt, dass bei der Kerr-Preisverleihung druckvolle Entladungen zu bestaunen sind: Schließlich sind die für die Auswahl der eingeladenen Inszenierungen Verantwortlichen allesamt greifbar.

Furios, wenn auch be­rechenbar waren über viele Jahre die Wutreden des Publizisten und langjährigen Stiftungsvorsitzenden Günther Rühle, der die Abkehr des Theaters von der «Menschendarstellung» und vom dramatischen Text geißelte und mithin fast alles, was – um es mit Hans-Thies Lehmann zu sagen – für ein postdramatisches Theater charakteristisch ist, auch wenn gerade etwa Nina Hoss Fabian Hinrichs für sein mitreißendes Spiel in René Polleschs «Fatzer»-Bearbeitung «Kill your Darlings» ausgezeichnet hatte.

Dieses Jahr jedoch schienen alle Zeichen auf Reform zu stehen. Schon im vergangenen Jahr war die Kerr-Biografin Deborah Vietor-Engländer Rühle als Vorsitzende nachgefolgt; und nun schien in der Einladung von Fabian Hinrichs und Milo Rau als Juror und Redner geradezu ein Bekenntnis zum postdramatischen Theatermainstream zu liegen. Denn zum Darling der nicht nur hauptstädtischen Theaterszene ist Fabian Hinrichs mit charismatischen Ausbrüchen aus den üblichen dramatischen Strukturen geworden: Als Schauspieler, der sich selbstbewusst zum Ko-Autor und -Regisseur von René Pollesch ermächtigt und es sogar geschafft hat, in seinem ersten «Tatort» als Ermittlerneuling gleich in der Folge seines ersten Auftritts zu sterben. 

Getarnte Wutrede 

Nicht alles an dieser Kerr-Preisverleihung war überraschend. Dass Fa­bian Hinrichs den flämischen Schauspieler Benny Claessens für seine furiose Publikumsbeschimpfung als kindlicher König in Falk Richters Jelinek-Uraufführung «Am Königsweg» küren würde, war fast zu erwarten. Auch seine Ermutigung, sich auf der Bühne als Künstler, Ko-Autor, Ko-Regisseur zu verstehen, als «souveräner Schauspieler» mithin, trifft auf einen Nerv, der ohnehin gerade bloßliegt, wenn sich Schauspieler*innen landauf, landab neu organisieren, um die strukturellen Bedigungen und teilweise starren Hier­archien überhaupt erst dahin zu wenden und zu öffnen, dass mehr als nur künstlerische Dienstleistung von ihnen erwartet und auch erbracht werden kann. Überraschend war vielmehr die ästhetische Stoßrichtung der als Laudatio getarnten, brillanten Wutrede, denn sie glich in mancher Hinsicht, obwohl quasi aus entgegengesetzter Richtung kommend, der das dramatische Theater verteidigenden auf verblüffende Weise. 

Mit einem einzigen Satz erledigte Hinrichs die zehn nominierten Inszenierungen, zu denen wir Juror*innen zwar auch unterschiedliche Meinungen haben, uns aber in einem Punkt – nämlich dem, dass sie eine große Bandbreite und plurale Vielfalt der Theaterkunst umfasst – einig sind: «Denn obwohl sich die Regisseure für die Übermittlung ihrer jeweiligen gut gemeinten Moralnachrichten eine teure abendliche Eskortbegleitung in Gestalt von massivem Einsatz von Ton und Gewerken, von Technik, von Kopfhörern, Verstärkern, riesigen Rädern, Visuals, Pauken, Zaubertricks und vokalem Extremsport engagierten, verschwimmt in der Rückschau das Meiste doch zu einer seltsam gleichförmigen Masse (…).» Und damit scherte er auch seine beim Theatertreffen auftretenden Kolleg*innen über den einen Kamm des «preußischen Gehorsams»und «wackeren Soldatentums» – mit Ausnahme von drei wenigen, altersbedingt für den Kerr-Preis nicht mehr in Frage kommenden Spieler*innen. Und von «Benny». Dass man sich aber, wie der Kerr-Preisträger 2017 Michael Wächter in einem offenen Antwortbrief an Fabian Hinrichs freundlich formuliert hat, auch souverän und selbstbewusst für die kollektive Arbeit an einem Kunstwerk entscheiden kann, in dem gerade nicht (oder anders) die Idiosynkrasien des Individuums im Zentrum stehen, diese Möglichkeit zieht der große Solist Hinrichs gar nicht erst in Betracht. 

Seinen stärksten Punkt aber machte Hinrichs mit seinem Bekenntnis zur Poesie: Sie «ist zweckfrei, sie unterwandert ideologisiertes Bewusstsein, das macht sie subversiv. Sie ist unbrauchbar und arrogant.» Die Poesie des Einzelnen kann – etwa in der Laudatio von Fabian Hinrichs – all das sein und genauso wirken (und in diesem Super-Individualismus steht sie auch zweifellos diametral zu Rühleschen Ensemble- und Hierarchievorstellungen). Die Poesie der Vielen aber, das Asoziale im Sozialen, ist, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch auf der Bühne, ein Widerspruch in sich und noch viel schwieriger zu haben. 


Theater heute Juli 2018
Rubrik: Foyer, Seite 1
von Eva Behrendt

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