Krisensplitter aus der Mittelklasse
Eigentlich haben wir mit Corona gerade eine Zeit des ungeheuren Rückzugs ins Private erlebt, mit Seelenschauen im Guten wie im Schlechten, mit Intimität und psychischer Labilität, mit einem Zuwachs an Abschottungswillen und an häuslicher Gewalt. Da passt kaum etwas besser als Ingmar Bergmans 1973 in sechs Teilen ausgestrahlte Fernsehserie «Szenen einer Ehe», ein Klassiker der sensiblen Innenschau.
Seine Großaufnahmen zart bewegter Gesichter (von Liv Ullmann und Erland Josephson, die hier den Zerfall einer Ehe durchleben) wirken unheimlich vertraut in unserer aus der Pandemie geborenen Zoom-Wirklichkeit, da man gelernt hat, noch die kleinsten Stimmungsumschwünge aus zwei -dimensionalen Kopfansichten herauszulesen.
Allerdings zeigte sich das Theater in seinen Routinen von Corona relativ unbeeindruckt. Und so nimmt es nicht wunder, dass Regisseur Stephan Kimmig für seine Bergman-Adaption am Schauspiel Hannover unbeirrt auf Standards zurückgreift, die im Bühnengeschehen seit den 1990ern regelmäßig herhalten, wenn sich eine Inszenierung vom psychologischen Realismus abstoßen möchte. Kimmig greift sich also das Dialogmaterial aus der bröckelnden Mittelklasse-Ehe von Marianne und Johan ...
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Theater heute August/September 2022
Rubrik: Chronik, Seite 58
von Christian Rakow
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«Theaterfilme sind noch kein...
I
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