Der Gesellschaftstanz

Johann Kresnik oder Ein Lobpreis der politischen Choreographie

Johann Kresnik ist der Trauerarbeiter des deutschen Theaters. Jedoch: Seine Trauerspiele sind nicht trist, sondern wild zupackend und verstörend und mitunter ohrenbetäubend laut. Wer nicht hören will, muss sehen: Der Tanz auf dem Trauma ist ein heftiger Taumel durch Geschichte und Geschichten.

Weniger Schritt für Schritt als Sprung um Sprung choreographiert Kresnik seinen ästhetischen Widerstand gegen zwei - sehr deutsche - Übel auf die Bühne: Widerstand gegen die kollektive Verdrängung von Unrecht und Schuld; und gegen die heillose Verstrickung in Familienbande und Gruppenzwänge.

Eine gemeinsame Überschrift für sein choreographisches Theater könnte lauten: Zeigt her Eure Wunden! - damit ihr jene Wunden zu sehen vermögt, die Ihr andern zugefügt habt und noch immer zufügt. Ein - scheint's - ewig zeitgemäßer Aufruf an die Deutschen.

Der Choreograph ist ein Seismograph. Jede Bewegung in der Gesellschaft bewegt ihn. Die Bilder der Wirklichkeit werden zu Bühnen-Bildern, nachdem sie im hitzigen Kaleidoskop der künstlerischen Wahrnehmung und Durchdringung zur Kenntlichkeit entstellt worden sind. Kresniks Kunst verändert, wie alle Kunst, kaum die Welt, doch verführt sie ...

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Theater heute Archiv 2004
Rubrik: Porträt, Seite 33
von Michael Merschmeier

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