Hinterm Stacheldraht

Ungarische Performances zur Flüchtlingsfrage

Theater heute - Logo

Für einen Theaterabend, der auf Schuberts «Winterreise» basierte, filmte der Theater- und Filmregisseur Kornél Mundruczo im Herbst 2013 sechs Tage lang im ungarischen Flüchtlingslager Bicske. Er bat die Geflüchteten – Menschen aus Afghanistan und Syrien –, auf eine neutrale, unemotionale Art und Weise ihre täglichen Routinen nachzustellen: Schlafen, Essen, Trinken, Sport treiben. Es entstand ein Gegenbild zur hochdramatischen Emotionalität, mit der die Medien zwei Jahre später die Flüchtlinge abbildeten.

Mundruczó verwendet den so entstandenen Film als Hintergrund, wenn sein Protagonist, der einsame Wanderer, der alleine auf der Bühne steht, Schuberts «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus» singt, während sich die Tore des Lagers öffnen und er die «Zone» betritt. Die Inszenierung hatte Premiere im Herbst 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Schuberts Wanderer wird zum Geflüchteten in einer rein funktionalen, kalten, entfremdeten Welt, seiner Fa­milie, jeglicher Privatheit und jeder Lebensperspektive beraubt, umgeben von fremden Gesichtern. Eine Welt, die bald Realität werden sollte. Mundruczó hatte geahnt, was kommen wird.

Heilung durch die Kunst?

Die ...

Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo

Sie sind bereits Abonnent von Theater heute? Loggen Sie sich hier ein
  • Alle Theater-heute-Artikel online lesen
  • Zugang zur Theater-heute-App und zum ePaper
  • Lesegenuss auf allen Endgeräten
  • Zugang zum Onlinearchiv von Theater heute

Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen

Digital-Abo testen

Theater heute März 2016
Rubrik: Flüchtlinge und Theater, Seite 40
von Andrea Tompa

Weitere Beiträge
Schuld und Bühne

Dostojewski ist einer der Autoren, an die man einmal geglaubt haben muss. Für empfängliche Seelen ist das eine beglückende Zeit, man identifiziert sich mit des Russen irrsinnsnahem Allmitgefühl: sein spezielles Gespür für die Spielsucht des Spielers, die Zerrüttung des Mörders, die Fallsucht des Idioten. Später schämt man sich dann etwas für die...

Theater als Arbeit am Bösen

Was Heiner Müllers «Horatier» gerade heute zum Terrorismus zu sagen hat

Der namenlose Kämpfer stößt dem verwundeten Gegner, der am Boden liegt und «mit schwindender Stimme» um Schonung bittet, «sein Schwert in den Hals, daß das Blut auf die Erde» fällt, er wirft sich das blutige Schlachtkleid des Getöteten über die Schulter, steckt sich dessen Waffe in den Gürtel...

Oberhausen: Der geöffnete Schlachthof

«Unmoralische Menschen werden blass unter der Peitsche der Satire», heißt eine Sentenz in einem antiken Text des römischen Dichters Per­sius. Auf einer Illustration des berühmten belgischen Symbolisten Fernand Khnopff räkelt sich dazu eine dunkelhaarige Nackte und entzieht sich dem lüsternen Zugriff zweier in das Bild ragender Hände. Auch der Regisseur Stef Lernous...