«Es gibt immer eine Wahl»

Ein Gespräch mit dem exilrussischen Regisseur Dmitry Krymov über das Schweigen seiner Landsleute und Mitgefühl

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Dmitry Krymov wurde 1954 in Moskau geboren. Sein Vater Anatolij Efros war ein berühmter russischer Regisseur, seine Mutter Natalia Krymova eine bekannte Theaterkritikerin und Historikerin. 1976 schloss er sein Bühnenbild-Studium am Moskauer Kunsttheater (MCHAT) ab, später begann er selbst zu inszenieren. Im Jahr 2004 gründete er sein eigenes experimentelles «Krymov Lab» an der Moskauer Schule für Dramatische Kunst, die er 2018 aus Zensurgründen verließ – 2014 hatte er sich gegen die russische Besetzung der Krim positioniert.

Im Winter 2021/22 inszenierte er am Wilma Theater in Philadelphia den «Kirschgarten». Nach der Invasion Russlands in die Ukraine erklärte Krymov am 25. Februar öffentlich, dass er nicht wieder nach Russland zurückkehrt. Daraufhin wurden alle seine Inszenierungen in Russland abgesetzt oder sein Name gestrichen. In der Neujahrsnacht 2022/23 brannte Krymovs Wohnung in New York aus ungeklärten Gründen vollständig aus. Er selbst erlitt schwerste Verbrennungen und lag neun Tage im Koma. Krymovs Theaterarbeiten haben weltweit Preise gewonnen, darunter sieben Mal die Goldene Maske, die wichtigste russische Auszeichnung.

Anja Quickert Schön, dass Sie Zeit für ein Gespräch haben, Herr Krymov. Sie sagten, Sie hatten gerade zwei Premieren? 
Dmitry Krymov Gemeinsam mit Freunden habe ich das Krymov Lab NYC gegründet. Die ersten beiden Inszenierungen hatten gerade Premiere: «Eugen Onegin» von Puschkin, und das zweite Stück basiert auf zwei Geschichten von Ernest Hemingway und einem Teil von Eugene O’Neills «Gier unter Ulmen». 

Quickert Rufen diese Autoren jeweils auch andere gesellschaftliche Kontexte für Sie auf? Oder sehen Sie eher Gemeinsamkeiten? 
Krymov Ich habe diese unterschiedlichen Texte gewählt, um zu zeigen, dass man sie mit dieser Theatersprache erzählen kann – egal, aus welchem Land sie kommen: Es gibt Raum für Lachen, Bitterkeit, Tränen, Drama, Verzweiflung, Optimismus. 

Quickert Ich habe zwei Ihrer Inszenierungen gesehen: «Boris» (2021) schien mir näher an der textlichen Vorlage zu sein, bei «Fragment» (2023) habe ich Tschechow zwar wiedererkannt, aber nicht durch den Text. 
Krymov Für meine Methode ist es nicht notwendig, den literarischen Originaltext zu verwenden. Bei «Boris» stammt vielleicht ein Hundertstel der Worte, die auf der Bühne gesagt wurden, von Puschkin. Im Grunde geht es darum, ein Gefühl auszudrücken, das Sie beim Lesen hatten und das Sie vermitteln wollen. 

Quickert Mich hat Ihre Inszenierung «Boris» formal sehr beeindruckt – ich habe sie aber auch als eine sehr kritische Auseinandersetzung mit der russischen Gesellschaft gelesen. Zum Beispiel hinsichtlich der Glorifizierung der imperialen Geschichte Russlands. Wie blicken Sie heute auf diese Arbeit? 
Krymov Das hat mich damals vielleicht am Wenigsten interessiert: die Regierung oder die Gesellschaft zu kritisieren. Als Künstler will ich allgemein zeigen, dass Macht auf einen Menschen zerstörerisch wirkt. Sie klettern auf die Spitze des Berges und sind in zehn Tagen – vielleicht auch zehn Jahren – kein Mensch mehr. Ich wollte zeigen, wie dieser Mensch auf dieser Spitze ganz einsam und hilflos wird – trotz aller Macht, die er besitzt. Die Zeit, in der er sich festklammern kann, ist begrenzt, und er wird jeden verdächtigen, ihn hinunterwerfen zu wollen. Und das stimmt ja auch tatsächlich, denn die Menschen, die dort hinaufwollen, sind ein sehr egoistischer Haufen. Und am Ende stirbt dieser Mensch und nimmt dabei das Leben vieler einfacher Menschen mit – wie wir es jetzt sehen. 

Quickert Liegt das Problem im System selbst oder bei den Menschen, die es geschaffen haben? 
Krymov Das ist eine gute Frage. Ich denke, es ist beides: Der Mensch macht das System, und das System macht den Menschen. Es ist ein Teufelskreis. 

Quickert Ich würde gern über Ihre Wahl sprechen. Sie haben sich bereits 2014 gegen die Besetzung der Krim positioniert. Haben Sie vor dem 24. Februar 2022 jemals überlegt, Russland zu verlassen? 
Krymov Wissen Sie, es passierte alles so langsam, dass ich leider – oder zum Glück – nicht zu den klugen Menschen gehöre, die alles im Voraus gesehen und Schritte unternommen haben. Ich habe nichts getan. Ja, ich war gegen das System, ich habe Theaterstücke dagegen gemacht. Aber solange es möglich war, diese Theaterstücke zu machen, und es Leute gab, die sie sich ansehen wollten, war ich bereit, sie dort zu machen. Mein Arrangement ist ziemlich einfach. Ich muss morgens zur Probe kommen und eine Inszenierung machen, die ich mir im Zusammenhang mit dem Horror, der um mich herum passiert, ausgedacht habe. Horror und Liebe. Aber sobald man anfängt, sich einzumischen oder gar die Vorstellungen zu verbieten, habe ich in diesem Wald nichts mehr verloren. Obwohl es mein Heimatwald ist. 

Quickert Menschen fragen sich derzeit, wie man mit russischer Literatur und Künstler:innen umgehen soll – auch auf dem Festival in Klaipeda. Können Sie die Menschen verstehen, die zum Boykott aufrufen? Stellen Sie selber die russischen Texte in Frage? 
Krymov Natürlich, in diesem Kreislauf drehen sich täglich meine Gedanken. Aber wie komme ich da raus? Das ist eine schwierige Frage – und auch jedes Land hat andere Antworten. Ich versuche zu spüren, was an einem bestimmten Ort in der Luft liegt. Das zu ignorieren, wäre nicht taktlos, sondern hieße, die Luft nicht wahrzunehmen, in der man lebt. In den USA hat mir ein Produzent gesagt, dass diese Überlegungen dort überhaupt keine Rolle spielen. Und trotzdem finde ich, ist der Zeitpunkt für direkte Bezüge falsch. 

Quickert Auf dem Festival in Klaipeda wurde neben «Fragment» auch eine Aufführung von Pavlo Aries «Tagebuch des Überlebens» gezeigt. Es gibt darin eine Passage, die mich sehr beschäftigt. Ich würde sie Ihnen gerne vorlesen: «Ich schreibe Kollegen in Russland, sehe, dass ich nicht der Einzige bin. Viele meiner ukrainischen Kollegen schreiben auf ihren Facebook-Seiten und in den Kommentaren. Die Antwort ist Schweigen. Die Russen tun so, als würden sie nichts sehen. Ich kann es nicht fassen. Pawel Rudnew, russischer Theaterkritiker Nummer eins, schreibt über Stanislawski und Spezifika der Theaterkritik, wobei er unsere Kommentare, dass wir hier vernichtet werden, einfach ignoriert.» 
Krymov (schweigt einen Moment) Ich kann nur zustimmen, es ist schrecklich. Das gibt es wirklich, und es ist furchtbar. Ich weiß nicht, wie die Menschen an diesen Punkt gelangen konnten. Aber es ist auch schwierig für mich, hier von New York aus darüber zu sprechen. Ich verfolge gerade nicht, was geschieht, damit ich nicht verzweifle. – Wir können nur gemeinsam entsetzt sein. 

Quickert Mein Anliegen wäre, die Ereignisse durch Ihre Perspektive besser zu verstehen. Denn ich scheitere daran. 
Krymov Wissen Sie, es gibt viele Bücher von Deutschen, die den Aufstieg Hitlers und den ganzen Nationalsozialismus miterlebt haben. Die sich wegen ihres Schweigens schuldig fühlen. Doch sie haben nicht einfach geschwiegen – es wurden Menschen ermordet. Man kann jede Gesellschaft einschüchtern. Selbst eine völlig freiheitsliebende, was die russische Gesellschaft ja im Allgemeinen nicht ist. Alle haben Familien. Sie können aus irgendeinem Grund nicht ausreisen, irgendetwas hält sie zurück: zum Beispiel ihre alten Eltern. Wenn Sie bleiben, ist die wichtigste Spielregel – mal abgesehen vom Militärdienst – das Schweigen, sonst sitzen Sie in einem Lager. Deshalb habe ich auch Mitgefühl. Nicht mit denen, die alles freudig akzeptieren, sondern mit denjenigen, die versuchen, über Stanislawski zu schreiben.
Übersetzung Ekaterina Raykova-Merz


Theater heute November 2023
Rubrik: Festivals, Seite 38
von Anja Quickert

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