Empowerment und Hausverbote
Am Ende ist es wie bei einem Schiller-Stück: Ein Brief entscheidet über das Schicksal zweier Frauen. Hausverbot. Übertriebene Aktion eines überforderten Intendanten oder gerechtfertigte Maßnahme zur Wiederherstellung des Hausfriedens? Hier gehen die Meinungen am Schauspiel Leipzig, in dem Ende letzten Jahres dieses Trauerspiel aufgeführt wurde, ausein -ander. Doch es wirft auch einen Blick auf ein neues Selbstverständnis von Schauspielern und Theatermitarbeitern, die stärker in die Entscheidungen der Leitung eingebunden sein wollen.
Der Reihe nach.
Am Anfang stand einer dieser üblichen unschönen Vorgänge, die im Theaterleben leider Alltag sind. Den beiden Schauspielerinnen Katharina Schmidt und Julia Preuß wurde von Intendant Enrico Lübbe eine Nichtverlängerung ausgesprochen. Beide waren seit der Spielzeit 2015/16 am Schauspiel engagiert, spielen in diversen Produktionen auf der großen und kleinen Bühne. Die Nicht-Verlängerung hat nicht nur sie überrascht, sondern auch für Aufruhr in der Belegschaft gesorgt. Anders als früher, wo solche Entscheidungen als Alltag achselzuckend hingenommen wurden, mobilisiert sich eine interne Solidaritätswelle, in der sich auch ein neues Selbstverständnis von Ensemble und Gewerken zeigt, die nicht mehr getrennt, sondern immer stärker vernetzt agieren – zumindest in Teilen, denn natürlich sind nicht alle Betriebsangehörigen für solche Solidaritätsschreiben zu haben.
Hochgeschätzte Kolleginnen
Beide Schauspielerinnen werden innerhalb des Ensembles als Künstlerinnen sehr geschätzt. Daher kam die Frage auf, nach welchen Kriterien denn diese Nicht-Verlängerungen zustande kamen, wie ein Ensemblemitglied formuliert: «Wenn es die beiden als zwei der profiliertesten Ensemblemitglieder treffen kann, was heißt es dann für den Rest? Dann kann es jeden treffen. Das sorgt natürlich für Unsicherheit. Gute Kunst braucht aber Vertrauen.» Zudem veröffentlichte die Technikabteilung intern einen Solidaritätsbrief, um die Rücknahme der Nichtverlängerungsentscheidung zu fordern.
Der Wellengang des Schauspiel Leipzig war nun etwas rauer, aber alles blieb intern, und eine erste, aber nicht die letzte Ensembleversammlung im November sollte Klärung bringen. Sogar eine Abordnung der Technik hatte sich, eher unüblich in der Vergangenheit, zum Ensembletreffen aufgemacht. Alle Seiten berichten von einem positiven Austausch, der eine neue Energie gebracht und aus dem Aufruhr einen Aufbruch hätte machen können. «Da war eine richtig positive Kraft und Energie im Raum», so ein Ensemblemitglied.
Einzelgespräche
Doch eine Rücknahme der Nicht-Verlängerungen wollte die Leitung nicht diskutieren, auch die Gründe dafür konnten, so Lübbe, aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht genannt werden. Fragt man im Haus nach, bekommt man als Antwort: «Manchmal muss die Regie anerkennen, dass die künstlerische Stärke der Schauspieler größer ist als ihr Konzept.» Lübbe bleibt auch gegenüber «Theater heute» bei seiner Position, keine Gründe nennen zu können, was ihm der Bühnenverein auf Nachfrage nochmals bestätigt hat.
Die Wirkung des reinigenden Gewitters verpuffte. Lübbe lud zunächst die Ensemblemitglieder und alle Techniker, die das Solidaritätsschreiben unterzeichnet hatten, zu Einzelgesprächen ein. Für Lübbe ein Einlösen des Gesprächsangebots, allerdings sahen das nicht alle so, sondern in diesem Vorgehen den Aufbau einer Drohkulisse und einen Einschüchterungsversuch. Die Idee, die Gespräche in Gruppentreffen umzuwandeln, wurde abgelehnt. Die Verhärtungen nahmen wieder Form an, und die Erzählungen gehen auseinander. So steht der Vorwurf im Raum, es seien Mitarbeiter bedrängt worden, sich zu solidarisieren, was aber von Ensembleseite bestritten wird. Die Kommunikation, die auch schon vorher gestört war, erschöpfte sich in fruchtlosem Gegeneinander, zumal in der Grundfrage der Nichtverlängerung keine Bewegung zu sehen war. Ein Mitarbeiter berichtet: «Schnell war uns klar, dass eine Lösung des Kon -flikts in einem konstruktiven, transparenten, gemeinsamen Miteinander nicht möglich war. Durch ein Klima der Verunsicherung, der Vereinzelung sollten Strukturen und Macht einfach nur erhalten werden.»
Die Mail des Anstoßes
Dann kam der Brief, oder vielmehr die Mail, in der sich die beiden Schauspielerinnen für die Solidaritätsbekundungen bedankten. Der Stein des Anstoßes, der die Lage vollends zur Eskalation brachte. Und wie bei jeder guten Tragödie ahnten die Protagonistinnen nichts davon.
In der Mail, die nur an einen ausgewählten Kreis versandt wurde und auch «Theater heute» vorliegt, ist neben Dankesworten von einem Ruck durch die Belegschaft die Rede, die Theatergemeinschaft mit all ihren Mitgliedern wird beschworen. Dann kam der Satz: «Dafür sollten wir uns gemeinsam zu einer Belegschaftsversammlung treffen, ohne Druck, ohne Leitung – miteinander reden und schauen, wie es weitergehen kann.» Und zum Abschluss: «Die Mündigkeit, sich zu betrieblichen Vorgängen oder künstlerischen Fragen zu äußern, steht außer Frage. Lasst es uns gemeinsam angehen.» Für Intendant Lübbe war das eine Spur zu kämpferisch, nun hing nicht mehr nur der Haussegen schief, der Betriebsfrieden war in Gefahr. Am 17. November, einen Tag nach dem Schreiben, von dem er Kenntnis erlangt hatte, sprach er Hausverbote für die beiden Schauspielerinnen aus.
Damit war der Betriebsfrieden aber erst recht gestört, Lübbe zum Kreon geworden. Eine Ensembleversammlung folgte auf die nächste, obwohl der Dezember ohnehin der Monat mit der höchsten Spielbelastung ist. Dazu kamen jetzt auch noch die durch das Hausverbot nötig gewordenen Umbesetzungen der Stücke mit Preuß und Schmidt, um den Spielplan zu erfüllen, was bei vielen Beteiligten zusätzliche Gewissenskonflikte auslöste. Das Ensemble formulierte zudem weitergehende Ideen. Vor allem ging es um mehr Mitsprache bei künstlerischen Fragen bis hin zu Spielplanentscheidungen, um eine bessere Kommunikation und – sicher die weitestgehende Forderung – um die Idee, ein Moratorium für Nicht-Verlängerungen bis zum Ende der Amtszeit Lübbes 2027 auszusprechen. «Das ist ein Vorschlag der GDBA, die die Situation am Schauspiel Leipzig nutzt, um ihren bundesweiten Forderungen Nachdruck zu verleihen. Diese sind Gegenstand von Tarifverhandlungen und nicht auf Ebene des Schauspiels Leipzig zu verhandeln», so Lübbe. «Wir sind am Haus bisher ohnehin eher sparsam mit den Nicht-Verlängerungen umgegangen.»
Das neue Selbstbewusstsein des Ensembles zusammen mit der gesamten Belegschaft ist unübersehbar. All die Reformansätze und Diskussionen der letzten Jahre, wie sie etwa das ensemble-netzwerk angestoßen hat, haben das Selbstbewusstsein der Theaterschaffenden gegenüber den Leitungen der Stadttheater gestärkt. Auch die Mindestgagenerhöhung war da ein wichtiges Zeichen. Während auf der einen Seite neue Teilhabemöglichkeiten diskutiert werden, geraten auch die Mechanismen des Tarifvertrags NV-Solo mehr und mehr in den Fokus, gilt er doch gemeinhin als einer der schlechtesten Tarifverträge in ganz Deutschland. Und alle Beteiligten sind auf noch etwas stolz: Bis dahin war alles in den Mauern des Schauspiels geblieben, es gab den unbedingten Willen, den Konflikt intern zu lösen.
Also fast, denn auch Claudia Bauer, Hausregisseurin am Schauspiel Leipzig, deren Produktionen «Die Rättin» und «Meister und Margarita» (das coronabedingt bisher nur einmal gezeigt wurde) auf dem Spielplan stehen, versuchte die Situation zu entschärfen. «Ich habe alle Parteien angerufen. Das Schauspiel Leipzig ist mir zu einer Art Heimat geworden, und ich wollte unter anderem Schaden für das Haus abwenden und zugegebenermaßen auch meine Inszenierungen retten», so Bauer, die zu dieser Zeit in München inszenierte. «Leider gab es von Seiten der Leitung aber kein Einsehen.» Sie sieht aktuell selbstzerstörerische Tendenzen am Haus und Verhärtungen auf beiden Seiten, die es zu überwinden gelte. «Dazu muss man aber auch Fehler eingestehen können.» Sie sah sich auch in der Verantwortung, weil sie Julia Preuß mit ans Haus geholt hatte. Die Praxis der Nicht-Verlängerungen kritisiert sie allerdings nicht. «Man kann sich künstlerisch genauso wie persönlich auseinanderleben. Beide Parteien müssen die Möglichkeit haben, sich fair zu trennen. Mit der Betonung auf fair.»
Enrico Lübbe allerdings liegt so ein Schuldeingeständnis fern. «Aus damaliger Sicht war die Entscheidung für uns alternativlos», erzählt er im Gespräch. Man sieht ihm an, dass ihn die Geschehnisse mitgenommen haben, ganz ruhig und unaufgeregt, defensiv, aber unerbittlich legt er seine Version der Dinge da. Er habe immer sauber gespielt, trage aber die Gesamtverantwortung und müsse damit jede Entscheidung nach außen vertreten. Er verweist auf die Projekte, die bereits vom Ensemble angestoßen wurden, sieht aber in der komplexen Materie von künstleri -schen Entscheidungen wie Spielzeitfragen keine Möglichkeiten für weiter -gehende Mitbestimmung. «Wir haben 190 Mitarbeitende am Haus. Da wird es naturgemäß keinen hundertprozentigen Konsens geben.»
Heikle Mediation
Hausbelegschaft und Personalrat sind derweil hochaktiv, die Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke wird zur Mediation angefragt, was sie ablehnt, ebenso wie ein Treffen nur mit Ensemblevertretern ohne Enrico Lübbe. Für sie ist die Sache einigermaßen heikel, will sie doch im Sommer wiedergewählt werden. Ein Diskussion um das eigentlich erfolgreich arbeitende Theater kommt da ungelegen, zumal sie erst 2021 Lübbes Vertrag geräuschlos verlängert hat.
Doch am 7. Dezember gibt es schließlich ein Zeichen von Lübbe, der Preuß und Schmidt zum Gespräch einlädt. Sein Vorschlag: eine Rücknahme des Hausverbots zu den Vorstellungen der noch nicht umbesetzten Produktionen, aber ansonsten Beibehaltung des Hausverbots. Die beiden lehnen ab. Einen Tag später berichten das Stadtmagazin «Kreuzer» und der «MDR» über die Vorgänge am Schauspiel. Angesichts der Berichte veröffentlichen «große Teile des Ensembles» ein Statement, in dem es unter anderem heißt: «Unserer Auffassung nach wurde das Betriebsklima durch die Freistellungen und die verhängten Hausverbote schwer beschädigt. Wir fordern daher ausdrücklich die Aufhebung der Haus -verbote. Damit einhergehend fordern wir, dass beide Kolleginnen alle ihre erarbeiteten Rollen wieder spielen dürfen. Wir wünschen außerdem die Rücknahme der Nichtverlängerungen.» Kurz vor Weihnachten geht auch Bauer an die Öffentlichkeit und verkündet im «MDR»-Interview, dass sie als Hausregisseurin zurücktreten werde und auch die beiden laufenden Inszenierungen nicht unter ihrem Namen laufen dürfen, falls die Rollen von Julia Preuß umbesetzt würden. Ein Paukenschlag.
Mittlerweile haben sich auch zahlreiche andere Theater sowie das ensemble-netzwerk und die Bühnengenossenschaft mit Nicht-Verlängerten solidarisiert. Die Krise zieht weiter Kreise. Der Gesamtpersonalrat der Stadt Leipzig, die Kulturbürgermeisterin und die GDBA haben sich eingeschaltet, der Konflikt hat das Haus verlassen, was neue Impulse bringt. So werden am 21. Dezember die Hausverbote zurückgenommen, die beiden können wieder ihre Produktionen spielen. Außerdem soll in diesem Jahr am Schauspiel ein Mode -rationsprozess mit allen Betriebsangehörigen starten. Schon seit Mitte Dezember hängt am Schwarzen Brett der Brief der Chefmaskenbildnerin, in dem sie ihre Unterstützung für Enrico Lübbe ausdrückt: «Von mangelnder Gesprächsbereitschaft seitens des Intendanten kann keine Rede sein.»
Also alles wieder gut? Das wird die Zukunft zeigen. Intendant Lübbe, dem ohnehin eine gewisse Konfliktscheu nachgesagt wird, hat sich in diesem ganzen Vorgang von seiner unsouveränen Seite gezeigt. Die Leitung müsse aber Konflikte aushalten und moderieren, hört man von verschiedenen Stellen, hier gibt es offenbar Nachholbedarf. Vor allem ist der Leipziger Theaterstreit aber auch ein Zeichen an andere Bühnen, dass es mit dem feudalen Durchregieren am Stadttheater vorbei ist. Ob Schauspielende, Techniker oder Gewerke, es herrscht ein neues Selbstbewusstsein im deutschen Stadttheaterbetrieb, ein neues Miteinander, das sich auch mal gegen die eigene Leitung wenden kann. «Wir wollen einen Neustart auf Augenhöhe», hört man in Leipzig. Das muss ja nicht unbedingt etwas Schlechtes sein.
Der Autor hat mit zahlreichen Vertretern des Schauspiel Leipzig aus verschiedenen Abteilungen gesprochen. Aufgrund der aktuellen Situation sind die Stimmen anonymisiert.
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Theater heute Februar 2023
Rubrik: Theaterpolitik, Seite 50
von Torben Ibs
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