Einreißen und Aufbauen

Sivan Ben Yishai und Maren Kames über Ben Yishais neues Stück «Bühnenbeschimpfung» (der Stückabdruck liegt diesem Heft bei) und den Prozess des Übersetzens

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Eva Behrendt Fangen wir vorne an! Aus welchem englischen Titel haben Sie, Maren Kames, «Bühnenbeschimpfung» übersetzt? 
Maren Kames Den englischen Titel habe ich diesmal tatsächlich zum ersten Mal in der Ankündigung auf der Suhrkamp-Homepage gesehen, nachdem die Übersetzung lang abgeschlossen war. Vorher wusste ich gar nicht, dass es überhaupt einen englischen Titel gibt. 
Sivan Ben Yishai Auf Englisch heißt es «Offending the Stage». Der deutsche Titel war in dem Fall aber zuerst da.

 
MK Dafür haben wir diesmal lange über den Untertitel gesprochen und ihn am Ende, zusammen mit Ruth Feindel, ganz ausgetauscht gegen das Barthes-Zitat. 
SBY Diesmal gab es wirklich zwei Lektorinnen, meine Lektorin Ruth Feindel und Maren, die das Stück beim Übersetzen von Anfang bis Ende mit abgeklopft hat. Das macht sie als Übersetzerin und Autorin ohnehin, aber bei «Bühnenbeschimpfung» hat unsere Zusammenarbeit eine neue Intensität erreicht. In diesem Stück unterscheiden sich die deutsche und die englische Version wirklich. Maren hat sich um ihre Version gekümmert, ich mich um die englische, mal ist die deutsche der englischen, mal die englische der deutschen Version gefolgt.
MK Wie ein zweisprachiger Organismus. Es passiert zwangsläufig, dass im Übersetzungsprozess editiert wird, mindestens in der deutschen Version. Es gibt keine Übersetzung ohne Abweichungen in der Zielsprache, und natürlich sind wir dann so tief im Prozess und im Gespräch, dass wir immer auch über den Text an sich sprechen. Bei der «Bühnenbeschimpfung» sind wir da noch tiefer reingegangen als zuvor, was sicher auch mit gewachsener Vertrautheit zu tun hat. Wobei ich behaupten würde, dass das auch individuell vom Text abhängt. Manche sind fixierter, fester, klarer; bei der «Bühnenbeschimpfung» hatte ich den Eindruck, wir arbeiten eigentlich an drei Stücken gleichzeitig; allein deswegen waren die Optionen und Fragen noch umfangreicher. 

EB Das Editieren bezieht sich also nicht nur auf einzelne Formulierungen, sondern auch auf inhaltliche Fragen? 
MK Ich würde sagen, alles, was Klang, Rhythmusstruktur und Grammatik betrifft, sind Editionsvorgänge, die im Übersetzen sowieso passieren. Wir drehen auch nie prinzipiell an der inhaltlichen Ausrichtung, aber wir lesen das Stück, Passage für Passage, wieder und wieder, und halten bei jeder winzigen Unstimmigkeit an. Die wird untersucht, und darüber ändern sich Stellen, manches wird verdichtet, manches umgeschrieben, manchmal auch gestrichen. Oder eher entschlackt. Im Prinzip tasten wir gemeinsam den Text ab. Im Übersetzen stößt man, wie bei einer Tiefenbohrung, fast zwangsläufig auf Dinge, die nicht ganz sitzen oder quer stehen. Deshalb ist Übersetzen, vor allem wenn man dabei so sehr die Köpfe zusammensteckt, so ein gutes Co-Editing.

EB Sie sind selbst Autorin – können Sie sich umgekehrt vorstellen, eigene Texte so zur Debatte zu stellen? 
MK Ich glaube, ich bin durch die Zusammenarbeit mit Sivan ganz gut vorbereitet. Dass es Abweichungen in Übersetzungen gibt, ist mir dadurch vielleicht noch selbstverständlicher. Sivan ist aber auch wirklich ein ganz anderer Fall als ich, man kennt sie ja in der deutschsprachigen Theaterwelt nur in der Übersetzung. Deshalb liegt da eine viel größere Verantwortung drin, und ich glaube, das macht unsere Zusammenarbeit auch so intensiv und gemeinschaftlich. 
SBY Inzwischen kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie man Stücke ohne diese intensive Überprüfung jedes einzelnen Satzes beim Übersetzen veröffentlichen kann. Tatsächlich ist dieser Prozess, genau wie die Erfahrung unserer Begegnung, ja extrem sensibel, gefährlich, explosiv. Das lässt sich durchaus mit dem Thema von «Bühnenbeschimpfung» vergleichen. Auch Theater können wir uns als eine Begegnung im Raum vorstellen, bei der Dinge passieren, die sich bei genauer Betrachtung als ziemlich riskant und explosiv erweisen. 

EB «Bühnenbeschimpfung» kann man lesen als Versuch, sich selbst maximal kritisch zu durchleuchten. Welche Rolle hat Peter Handkes mittlerweile kanonischer Text dabei gespielt? 
SBY Ich glaube, der Titel «Bühnenbeschimpfung» als Umkehrung der «Publikumsbeschimpfung» war schon da, bevor ich angefangen habe, das Stück zu schreiben. Es war ein Versuch, die Frage nach dem Kanon zu stellen, Handke – den ich, wie viele andere, politisch kritisch sehe – zu kommentieren, zu «korrigieren» im Sinne von Necati Öziri und darüber nachzudenken, wie ich das Theater als Raum, als die «bessere» Institution analysieren kann, auch in Hinblick darauf, was Theater als kulturelles Erbe, als Tradition bedeutet. 

EB Waren die Machtmissbrauchsvorwürfe am Gorki ein Anlass für das Stück? 
SBY «Bühnenbeschimpfung» hat mich bestimmt zwei Jahre beschäftigt, und insofern spielten natürlich auch die Vorgänge am Gorki, das mich zuvor mit dem Stück beauftragt hatte, hinein. Als Autorin versuche ich immer, mir die Bühne vorzustellen, auf der mein Text gespielt wird, da entsteht zwangsläufig eine gewisse Spannung. Es war klar, dass ich, wenn ich für das Gorki schreibe, über bessere oder schlechte Institutionen nachdenke, darüber, wo auf dieser Skala das Theater steht. Diese Frage war ziemlich heftig während der Pandemie aufgekommen. Dann kamen die Beschuldigungen der Gorki-Intendantin, und für mich stellte sich die Frage, wie damit umgehen – institutionell, aber auch künstlerisch. Ich fühle mich dem Gorki zwar eng verbunden, betrachte mich aber doch als Gast. Wie konnte ich also diese explosiven Auseinandersetzungen auf die Bühne bringen, wie sie überhaupt ermöglichen? Das war der Ausgangspunkt. 

EB Im Stück kommt die «künstlerische Leitung» des Gorki vor, wenn auch nicht namentlich. Einerseits spricht «Bühnenbeschimpfung» die Probleme von Hierarchie und Machtmissbrauch, die es augenscheinlich am Gorki gab, so offen wie bisher noch keine Inszenierung an. Andererseits werden sie nicht direkt bewertet. Wieso? 
SBY Die Konflikte am Gorki werden zwar erwähnt, aber sie sollten das Stück nicht übernehmen. So wie Popeye nicht mein Stück «Liebe» übernimmt, sondern Olivia Öl die Protagonistin bleibt. Der erste Teil handelt nicht davon, was der Intendantin vorgeworfen wurde, was sie getan hat und wie das Gorki damit umgegangen ist. Er versucht vielmehr, über die Grenzen des Diskurses hinauszugehen, ihn über die Körper der Schauspieler sichtbar zu machen. Wie streiten oder sprechen wir in der Dramaturgiesitzung, wie auf der Probebühne oder auf der Konzeptionsprobe? Wie sprechen wir im Zuschauerraum? Wenn in der Institution Theater etwas schiefläuft, tendieren wir dazu zu schweigen. Dieses Argument habe ich mit in den zweiten Teil genommen, in dem das Publikum spricht oder eben schweigt. Beim Nachdenken über die Passivität, das Runterschlucken oder Vermeiden von Konflikten – was wir auch in vielen Bereichen der Politik sehen – habe ich versucht herauszufinden, warum wir als Publikum eigentlich nicht laut nachfragen, was da los war. Was lässt uns akzeptieren, dass dieser Konflikt nicht offen auf der Bühne vor uns ausgetragen wird, dass er vielleicht woanders gelöst werden muss? Und wenn das so ist, was ist dann hier und jetzt möglich? Ich habe das Theater immer als Seismograf gesehen, als Wörterbuch, um Gesellschaft, Politik und mich selbst zu verstehen. Was passiert mit den Körpern der Schauspieler:innen, wenn sie gezwungen sind, diesen Text zu sprechen, der sie an ziemlich intimen Stellen berührt, den jemand von außen geschrieben hat, jemand, der vielleicht gar nicht wirklich Bescheid weiß? Das schien mir ein guter Weg zu sein, um allgemein über Gewalt in der Institution zu sprechen, ohne mit dem Finger auf jemand Konkretes zu zeigen.

EB Es ist jedenfalls ein interessanter performativer Widerspruch … 
SBY Ich wollte die Kohärenz und Ganzheitlichkeit der Inszenierung schon im Text brechen, ihn in direkten Konflikt mit den Performer:innen bringen. Der Text versucht, sich von den Performer:innen zu lösen und fragt: Warum redet ihr noch? Warum gehorcht ihr und sprecht ihn weiter, Ihr habt die Bühne, Ihr habt das Mikro, Ihr könntet ausbrechen und sagen, was Ihr denkt! Was geschieht, wenn Ihr wütend auf den Text seid, wenn Ihr Euch ihm widersetzt? Ich schreibe über Euch als «sie», Ihr müsst über Euch selbst als «sie» sprechen. Was für eine Dialektik entfaltet sich da zwischen dem Text und den Körpern, die den Regieanweisungen folgen und ihn sprechen? 

EB Was ging Ihnen als Übersetzerin bei diesem ersten Teil durch den Kopf, Maren Kames? Kam Ihnen das nicht sehr theaterselbstzentriert vor? 
MK Naja (lacht), es war schon nicht ganz leicht, mit dem sprödesten Teil in dieses Stück einzusteigen. Ich kam mir vor wie in einem poststrukturalistischen Essay, für einen Bühnenauftakt ist das supertrocken und abstrakt und gleichzeitig frontal oder eben konfrontativ. Und dann die Vorstellung, dass das eben zum Auftakt gleich durch die Körper der Performer:innen durchmuss, dass die da auch durchmüssen, wie durch eine Wand. Das hat eine Weile gebraucht, den Ton zu finden. Im Endeffekt finde ich es aber gar nicht so sehr theaterzentriert, weil da ja Strukturen, Arbeits- und Machtverhältnisse beschrieben werden, die sich auch in ganz anderen Zusammenhängen und Feldern finden. Wenn dieser Prisma-Effekt funktioniert, dann fängt auch dieser erstmal spröde Anfang an zu leuchten. Ich finde es sowieso faszinierend, wie verschieden die Aggregatzustände dieser drei Teile sind, vielleicht gerade der erste im Kontrast zum letzten, der nur so birst vor organischer Lebendigkeit und Tod und Urwaldgeflecht. Der Kontrast ist schon eine Wucht. 

EB Der erste und dritte Teil besteht aus Prosa, im Mittelteil sprechen drei verschiedene Stimmen während einer Theateraufführung über Gefühle und Gedanken, darüber, dass sie sich aus dem Theater weg sehnen nach Hause, ins Bett, zu Netflix, aus der Überforderung in die Regres -sion. Dort steht auch die tolle Zeile «(no power to fuck)». Wie kommt es beispielsweise zu der sich natürlich absolut richtig anfühlenden Entscheidung, hier einmal nicht zu übersetzen? 
MK Seltsamerweise machen diese Entscheidungen, einzelne Partikel auf Englisch zu lassen, besonders Spaß. Sivans Sprache ist ja, vor allem, wenn sie mündlich wird, sowieso zeitgenössisch, da sind englische Phrasen fast selbstverständlich. Manchmal mag ich es auch, das Englische wie ein Spurenelement aus dem Original drin zu lassen. Bei einer Zeile wie «no power to fuck» wäre mir außerdem beim besten Willen keine deutsche Formulierung eingefallen, die nicht irgendwie «cringe» wäre. 

EB Beziehen sich die Publikumsgedanken im zweiten Teil auch auf die Debatte zum Publikumsschwund? 
SBY Für mich verweisen sie auch auf etwas anderes. Die wenigsten von uns sind in demokratischen Haushalten aufgewachsen, deshalb ist es so schwierig, demokratische Orte mitzugestalten und uns in ihnen auszudrücken. Das gilt für Künstler:innen genauso wie für das Publikum. Deshalb inszeniere ich schreibend Situationen, in denen sie sich zu Konflikten verhalten könnten, sich dem aber oft genug entziehen. Was für eine Art von Theater wollen wir denn in Zukunft? Eines, in dem die Mehrheit still dasitzt und darauf wartet, dass diese Aufführung, dieser Krieg, diese Pandemie, diese Krise aufhört, oder wollen wir eine andere Form von Begegnung, in der die Mehrheit aktiv ist und spricht? Es ist ja auch etwas sehr Schönes an der Idee, dass eine Minderheit das Wort hat. Aber halten wir es überhaupt noch aus, von einem Autor, einer Autorin stundenlang in Geiselhaft genommen zu werden? 

EB Wie verhält sich der dritte Teil dazu, in dem ein Theater sich in ein Stück Wildnis verwandelt? Ist er als Dystopie oder Utopie zu verstehen? 
SBY Für mich ist der dritte Teil eher die Fortschreibung meines Vorgängerstücks «Medusa», in dem ich die Geschichte des Penis weitererzähle, den Lorena Bobbitt ihrem Mann, nachdem er sie jahrelang missbraucht hatte, abschneidet, und wo in einem Konjunktiv-II-Monolog darüber nachgedacht wird, was passiert wäre, wenn er auf eine Wiese gefallen wäre und dort hätte verwesen können. Das ist weder utopisch noch dystopisch, sondern einfach eine Möglichkeit. Ich glaube, es liegt eine Menge Schmerz in der Vorstellung, das Theater zu verlieren, aber auch viel Schönheit in dem, was stattdessen Neues passieren könnte. Es ist ein bisschen wie mit der israelischen Linken, der sehr weißen, ashkenasijüdischen Partei Meretz, die jetzt nicht mehr ins Parlament gewählt wurde. Natürlich ist es schmerzhaft, dass sie diesen Platz verliert – insbeson -dere im Kontext der katastrophalen Ergebnisse der jüngsten Knesset-Wahl. Nichtsdestotrotz ist Platz entstanden für etwas Neues, was noch erschaffen werden muss. Das ist genau die dialektische Lücke, für die ich den dritten Teil geschrieben habe. Da verrottet eine Leiche, aber dieser Vorgang ist eine riesige Party. 

EB Zwischen den drei Teilen wird auch noch ein alternativer Weg beschrieben, das japanische Modell, in dem ein Schrein alle dreißig Jahre zerstört und genau gleich wieder aufgebaut wird. 
SBY Der Schrein ahmt die dialektische Lücke nach, in dem Verfall, aber auch Wiederaufbau regelmäßig in Szene gesetzt werden. Diese Praxis lehnt sich natürlich sehr an Erbe, Tradition und Kanon an, aber er wird immer wieder von neuen, jungen Händen an einem neuen Ort durchgeführt. Der Schrein ist deshalb das perfekte Behältnis, um all diese Überlegungen zum Theater als Institution, als Körper, als Ort der Begegnung zusammenzuhalten.

EB Aber könnte das nicht auch ein sehr konservatives Modell von Gesellschaft und Institutionen sein? Wenn man das Alte immer wieder gleich errichtet? Man verändert vielleicht das Material, aber nicht die Struktur. 
SBY Mich sprechen komischerweise Aufrufe, alles niederzubrennen, überhaupt nicht an. Es fühlt sich für mich an wie ein Wunsch aus der Vergangenheit. Unter dem Motto: Ich will die Früchte meines Aktivismus sehen – jetzt sofort! Da steckt auch ziemlich viel Arroganz drin. Veränderung braucht aber Zeit, und es kann sehr hilfreich sein, möglichst viel Erfahrung und Reflexion in diesen Prozess zu integrieren. 

EB Maren, bekommen Sie durch das Übersetzen von Sivans Texten auch Lust, für die Institution Theater zu schreiben? 
MK (lacht) Jetzt sträube ich mich natürlich allein kontextbedingt da - gegen, als Schreibende die Institution – oder das Medium – an den Anfang zu stellen. Aber ich glaube auch wirklich, dass der Prozess ein umgekehrter ist. Ich glaube, der Text sucht sich seine Form und seine Adressen, man kann im Schreiben diese Form so präzise wie möglich machen, der Rest passiert danach. Und ich mag Zwischenformen, Textgefüge, die in verschiedene Situationen gesetzt werden können. Im Feuilleton oder auf dem Buchmarkt wurde das immer relativ eindeutig als Lyrik klassifiziert, obwohl es dafür zu struppig, zu prosaisch, zum Teil dialogisch, auch performativ ist. In Leipzig ist gerade ein Text von mir auf die Bühne gekommen, der offiziell erstmal schlicht ein Buch ist, das aber schon durch Layout und Satzbild viel Raum evoziert. In dem eigentlich durchgehend Stimmen sprechen. Die als Buch still gelesen werden und bei Lesungen von mir in einer Stimme. Den es auch als Hörspiel gibt. In dem außerdem auch noch viel Popmusik steckt. Ich mag es, wenn diese Inszenierungen oder Aggregatszustände parallel möglich sind. Man muss den Text dann jeweils adaptieren, anpassen und umformen, und diese Prozesse nach dem Buch oder aus dem Buch raus mag ich extrem. 

EB Denken Sie beim Schreiben immer schon ans Theater, Sivan? 
SBY Ich beginne immer mit einer Bühne. Ich mag es, dass die Stimme, sogar der Körper der Autorin präsent ist, dann, wenn das Publikum noch nie von mir gehört hat. Aber dann muss es auch einen konkreten Performer-Körper geben, der sich mit einem konkreten Text in einer konkreten Institution auseinandersetzt, und natürlich kann es on top auch noch Figuren oder ein Thema geben. Irgendwie reise ich zwischen diesen Ebenen hin und her, das ist meine beste Methode, um über Fragen nachzudenken, auf die ich keine Antwort habe. 

EB Sie arbeiten jetzt seit fünf Jahren zusammen, erinnern Sie sich noch an Ihr erstes gemeinsames Projekt? 
MK Ruth Feindel hat uns zusammengesteckt. Und das vom Schreiben her vermutet. Sie hat uns quasi über unsere Texte zusammengecastet. 
SBY Aber nach unserer ersten richtigen Begegnung mit «Papa liebt Dich» dachten alle, dass wir nicht weiter zusammenarbeiten können. Wir haben wirklich in unseren Wunden herumgewühlt. Wir mochten uns sehr, haben aber alles falsch gemacht – und lernen immer noch. Unsere Praxis ist tatsächlich, dass wir zusammen etwas einreißen und aufbauen. Wir tun es, nachdem wir uns auf eine ganze Reihe von Regeln, Ideen und Gedanken verständigt haben. Mittlerweile stellen wir sicher, dass wir es umsichtig und auf smarte Weise tun.
MK Wir haben deshalb zum Beispiel gerade entschieden, dass ich Sivans nächstes Stück nicht übersetze, weil ich gerade selbst an meinem dritten Buch schreibe. Wir kennen uns mittlerweile so gut, reflektieren auch jedes Mal unsere Zusammenarbeit, machen uns Vorsätze und so weiter – trotzdem bleibt es ab dem Moment, wenn wir ins Gespräch gehen, komplett unberechenbar. Über «Bühnenbeschimpfung» haben wir, glaube ich, etwa 60 Stunden gesprochen. Das wuchert extrem aus. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dieses Gespräch zu unterbrechen oder gar nicht stattfinden zu lassen.

SIVAN BEN YISHAI, geboren 1978 in Tel Aviv, studierte Szenisches Schreiben und Theaterregie in Jerusalem und Tel Aviv, arbeitete als Regisseurin und lebt seit 2012 in Berlin. Sie war in der Spielzeit 2019/20 Hausautorin am National- theater Mannheim. 2020 wurde sie mit «LIEBE/Eine argumentative Übung» sowie 2022 mit «Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)» zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen; 2022 erhielt sie den Mülheimer Dramatikpreis.

MAREN KAMES, geboren 1984 in Überlingen am Bodensee, studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Theaterwissenschaften in Tübingen und Leipzig sowie Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus am Institut für Literarisches Schreiben in Hildesheim. Von 2011 bis 2013 war sie Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift «Bella Triste». 2016 erschien ihr Buch «Halb Taube, Halb Pfau», 2019 folgte «Luna Luna». Seit 2017 übersetzt sie die Theaterstücke und Essays von Sivan Ben Yishai aus dem Englischen.


Theater heute 1 2023
Rubrik: Das Stück, Seite 52
von Eva Behrendt

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