Ein klassisches Stück

Anja Hilling: «Monsun»

Das Kameraauge der Autorin fährt im Inneren einer Küche entlang und bleibt am auf dem Tisch liegenden Käsebrot hängen. Ein in Zellophan eingepacktes Käsebrot. Dessen Käse sich wellt und schwitzt. Dem die Butter aus den Löchern quillt. Dessen Farbe auch eine Haarfarbe sein könnte. So schreibt sie, so beobachtet sie, so sind ihre Welten. Im Detail entdeckt Anja Hilling die Tragik ganzer Biografien; die übergroße Nahaufnahme erzählt vom Unglück eines kompletten Menschenlebens.

Der Schweißtropfen, der sich von Frau Schlüters Stirn eine Bahn durch die Puderschicht frisst, das energetische Hausmeisterknie, dessen Anblick schon fast zu viel für die dahindämmernde Schlüter ist – «Verdammt steiler Tagesausflug, so’n Hausmeisterknie!» –, anderthalb Stunden nach den vielen Schlaftabletten verengt sich der Blick zum Tunnel. Doch nicht nur der pharmakologische Zustand Frau Schlüters nach ihrer Verzweiflungstat lässt die Optik überscharf werden, auch die kleinen Dinge in Eugen Zarters Hausmeisterwohnung verraten die Auflösung: der Tesastreifen am Foto von Karin, das von der Wand fällt, der grüne Schal an der Garderobe, Kurts schwarze Haare im Waschbecken, damit ist schon das ganze Universum des ...

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Theater heute Jahrbuch 2005
Rubrik: Neue Stücke der neuen Spielzeit, Seite 148
von Marion Hirte

Vergriffen
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