Alle!
«Einfach das Ende der Welt» – dieser Titel könnte in jüngster Zeit auch andere Assoziationen wecken, als Jean-Luc Lagarce 1990 im Sinn hatte. Der 1995 an Aids gestorbene französische Dramatiker erzählt in seinem Theaterstück «Juste la fin du monde» die Geschichte des todkranken Künstlers Louis, der nach jahrelanger Abwesenheit zu Mutter und Geschwistern in die Provinz reist und feststellt, wie weit er sich in jeder Hinsicht von seiner Familie entfernt hat.
Regisseur Christopher Rüping und sein Team haben daraus am Schauspielhaus Zürich ein Kammerspiel über Identitätskonflikte gemacht – für 8 Kritiker:innen die Inszenierung des Jahres. Mit 5 und 4 Stimmen folgen Gob Squads 12-Stunden-Digital-Performance «Show Me A Good Time», herausgekommen u.a. am Berliner HAU und Karin Beiers Uraufführung von Rainald Goetz’ «Reich des Todes» über die Abgründe der westlichen Demokratie am Schauspielhaus Hamburg.
«Einfach das Ende der Welt» ist auch ein Fest für Schauspieler:innen. Etwa für Benjamin Lillie, der mit 8 Stimmen Schauspieler des Jahres wird. Sowie für die Schauspielerin des Jahres Maja Beckmann, die als Benjamins Schwägerin und als Medea-Performerin in der gleichnamigen Inszenierung von Leonie Böhm, ebenfalls Schauspielhaus Zürich, insgesamt 9 Kritiker:innen überzeugte. Es folgen Katharina Lorenz als Eva in Anna Gmeyners «Automatenbüfett» am Wiener Akademietheater und Franziska Machens als Thronkonkurrentin Maria Stuart am Deutschen Theater Berlin mit je 4 und 3 Voten.
Mit 10 und 9 Stimmen sammeln Judith Oswald und Sibylle Wallum für das von Zoomkacheln bis Setzkasten deutungsoffene pinkfarbene Bühnen- und Kostümbild des Jahres – beide für Anne Lenks Schiller-Deutung «Maria Stuart». Je 6 Kritiker:innen votierten außerdem für Martin Zehetgrubers Bierkathedrale in «Automatenbüfett» und für die detailgetreue Elternhauswohnung, die Jonathan Mertz für «Einfach das Ende der Welt» konstruiert hat. 4 Stimmen fielen zudem auf die unterschiedlich bizarren Fatsuits von Adriana Braga Peretzki im «Zauberberg»-Stream von Sebastian Hartmann am Deutschen Theater Berlin.
Das Stück des Jahres stammt aus dem sarkasmusgestählten Laptop von Sibylle Berg: «Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden» (5 Stimmen), dicht gefolgt von Rainald Goetz’ «Reich des Todes» und Ewe Benbeneks «Tragödienbastard» (4 und 3 Stimmen). Letztere erhielt auch den Mülheimer Dramatikpreis 2021 und wird mit weiteren 5 Stimmen zur Nachwuchsautorin des Jahres gewählt.
11 Kritiker:innen hat die Nachwuchsregisseurin des Jahres, Cosmea Spelleken, überzeugt, die gemeinsam mit ihrem Kollektiv punktlive Goethes «Leiden des jungen Werther» zum nur digital besuchbaren Social-Media-Drama «werther.live» machte. Anne Rietmeijer, die dem Bochumer «Peer Gynt» von Dusan David Parizek in selbstgeschriebenen Reimen Solveigs Demutshaltung aufkündigt, wird mit 3 Stimmen Nachwuchsschauspielerin des Jahres.
Wir gratulieren herzlich! Wie ambivalent für viele Kritiker:innen das letzte Jahr dennoch gewesen ist, lässt sich an den letzten beiden Spalten ablesen. In der coronabedingt neu eingeführten Rubrik der* Überlebenskünstler:in des Jahres, die wir anstatt der ohnehin die meiste Zeit geschlossenen Theater des Jahres ausgelobt haben, ist denn auch das häufigste Wörtchen: «Alle (…)». Doch neben solchen Solidaritätsappellen – und viel Begeisterung für einzelne Künstler:innen und Gruppen – bleibt auch die Palette der Ärgernisse reichhaltig. Geschlossene Theater, gestreamtes Theater, Coronaregeln, keine Coronaregeln, Masken, Mutanten und viele Aufreger mehr sprechen zumindest dafür, dass die verflossene Saison eines nie war: langweilig.
Theater heute Jahrbuch 2021
Rubrik: Höhepunkte des Jahres, Seite 124
von
«Über die Fiktion der Kunst lernen wir die Welt besser zu verstehen.»
Xenia Hausner
Die Zeit der durchweg geschlossenen Theater war auch eine der Suche nach neuen Bühnen und anderen Erlebnis-Räumen. Gefunden haben wir eine Erweiterung unserer ästhetischen und operativen Möglichkeiten. Hielten wir es in Vor-Pandemie-Zeiten noch für schwierig bis ausgeschlossen, zur Programmierung von...
Drei Frauen in einem Hochhaus: Großmutter Sugar, Mutter Viki und Tochter Kitti. Das Hochhaus zwischen heimeliger Zärtlichkeit und brutalistischer Kälte. Kitti, 17 Jahre alt, ist schwanger. Sollte sie – so jung – ein Kind bekommen? Der Vater Maik – «ein blonder Junge, schiefes Lächeln» – wohnt ein paar Stockwerke über ihnen, mit Vater und Großvater, ein Gegenstück zu den drei Frauen unten....
Ist die Zeit gerast oder stand sie still? Wann ist Zeit zu Halbwertzeit geworden, die (nicht nur nuklearen) Verfall markiert? War vor dem Anfang schon das Ende da? Diese Fragen stellt sich die göttliche Dreifaltigkeit in Miroslava Svolikovas Stück, in dem, titelgebend, Gott drei Frauen ist. Sie schauen auf die Erde, die ökologisch und mental am Ende zu sein scheint, und mit ihr die...