«Der Körper ist schneller als der Kopf»

Statt eines Nachrufs: Hannelore Hoger spricht über ihre Arbeit am Theater – ein Text aus dem Jahr 1988

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«Hannelore Hoger als der ins Freudenhaus verschlagenen Unschuld aus dem strengen Kloster glaubte man ihre ungekünstelte Naivität aufs Wort», schrieb Hellmuth Karasek im Dezemberheft 1961 von «Theater heute» über ihren Auftritt in Brendan Behans «Die Geisel» in Ulm, Regie Peter Zadek, der Aufführung des Jahres 1962. Dorthin zu Kurt Hübners bald legendärer Provinzbühne war sie nach der Schauspielschule getrampt und im ersten Engagement gleich auf Zadek, Peter Palitzsch oder Wilfried Minks getroffen. Was danach kam, ist (Theater-)Geschichte: die 1960er und ’70er Jahre in Bremen und Bochum, Filme mit Alexander Kluge, eigenen Regiearbeiten und schließlich 25 Jahre TV-Prominenz als Kommissarin Bella Block. Und schreiben konnte sie auch! Siehe der folgende Text aus dem Jahr 1988, den wir vollständig nachdrucken – ein nach wie vor gültiges Dokument.

Als ich zum Theater ging, hatte ich keine Wunschvorstellung vom Theater. Ich bin ein Straßenkind mit einer lauten Stimme gewesen. Meine Spielplätze waren Ruinen, meine Höhlen aus Laub. Mein Vater war Inspizient und Schauspieler in Hamburg. Fast täglich begleitete ich ihn ins Theater, um die Vorstellungen anzusehen. Meistens hinter der Bühne. Neben dem Feuerwehrmann. Hier hatte ich als Siebenjährige meine ersten Bühnenauftritte, und natürlich wollte ich Schauspielerin werden.

Etwas von dieser spontanen, ungezügelten Spiellust des Straßen -kindes wurde wiederbelebt in den freien Projekten mit Augusto Fernandes. Diese Arbeiten gehören zu meinen schönsten am Theater. Hier gab es Freiräume für die Fantasie: Möglichkeiten, eigene Gedanken umzusetzen, aufregende Erfahrungen über sich und mit sich in der Gruppe zu machen. Wir waren Profis, die – etwa bei unserem «Atlantis»-Projekt in Bochum 1976 – mit unbändiger, kindlicher Lust ausprobierten, improvisierten, spielten; Theater machten. Dabei entstand sicher nicht «das große Werk», keine «große Dichtung», aber eine außerordentliche Aufführung. Es war eine neue, ungewohnte Art zu arbeiten. Eine wichti -ge Fantasie-Anstrengung für uns alle, auch für das Publikum. – In dieser Zeit verschwanden meine häufigen Mandelentzündungen.

Ich hatte Glück und habe schon als junge Schauspielerin mit ungewöhnlichen Regisseuren gearbeitet: Peter Zadek, Peter Palitzsch, Wilfried Minks. Wobei die Zusammenarbeit mit Zadek mich besonders prägte. Die Rollen, die er für mich aussuchte, in Brendan Behans «Geisel», in Falladas «Kleiner Mann, was nun?» oder der Narr im «Lear», haben mich ausgefüllt, glücklich gemacht, geformt. Allerdings habe ich die großen Rollen der Weltliteratur wenig gespielt, viele Stücke von Shakespeare, Ibsen, Kleist einfach verpasst.

Mein Freund Alexander Kluge erfand für seine Filme «Artisten ratlos», «Die Patriotin» oder «Die Macht der Gefühle» für mich und mit mir die Figur der Leni Peickert. Das entschädigt. Filmarbeit gefällt mir überhaupt gut. Wie jetzt meine erste Arbeitsbegegnung mit Edgar Reitz, oder die inzwischen beendete Verfilmung des Romans «Die Bertinis» unter der Regie von Egon Monk.

Da ich seit mehreren Jahren nicht mehr im festen Engagement bin und längere Zeit kein konkretes Rollenangebot hatte, habe ich angefangen zu inszenieren und meinen Beruf aus einer neuen Perspektive kennengelernt. Dabei ist mir weniger wichtig, ein Stück in seiner Totalität zu erfassen, sondern ich versuche, einen Punkt zu finden, der mich und damit, so hoffe ich, auch den Zuschauer etwas angeht. Der Überbau eines Stückes interessiert mich nie besonders, aber ich glaube, ich habe ein gutes Gefühl für Situationen. Ich versuche, an die tieferen Schichten einer Bühnenfigur heranzukommen, und zwar über den unmittelbaren Ausdruck im Spiel. Der Körper ist schneller als der Kopf.

In einem freien Projekt wie «Atlantis» teilten wir dem Zuschauer unsere eigenen Erfindungen und Gedanken mit. Schlüpfen wir aber in eine der großen Rollen Shakespeares, so müssen wir zuallererst seinen Gedanken erfassen, was für den Schauspieler auch einen Halt bedeutet. Wir versuchen, über seine Figur in die Innenräume des Menschen zu gelangen, sie sinnlich erfahrbar zu machen. Das ist für jeden Schauspieler spannend, mehr als das unmittelbare Abbilden von Realität.

Die Theater, so wie ich sie erlebe, werden wieder sehr autoritär ge -führt. Wie einst vorm Mai. Auseinandersetzung wird nicht nur nicht gefördert, sondern meist umgangen. Mit Liebesentzug und Repression nicht nur gedroht. Sicher, der Erfolgszwang, der ökonomische Druck, der auf den Theatern lastet, ist groß. Theaterleiter klagen darüber, dass sie leiten müssen, dass für ihre eigene künstlerische Arbeit fast keine Zeit mehr bleibt. Aber warum müssen sie so leiten? Dann die zunehmende Existenzangst der Schauspieler, ihre Abhängigkeit von all den internen Mechanismen des Theaterbetriebes. Macht und Ohnmacht bilden ein Verhältnis. Ich weiß, dazu gehören zwei. Aber meine Angst wächst.

Im Februar ’89 beginne ich mit den Proben zu «Frühlings Erwachen» an der Josefstadt Wien. Meine Tochter Nina spielt die Wendla. Darauf freue ich mich. «Wo du nicht lieben kannst, gehe vorüber.» (Eleonora Duse) Ich liebe Menschen, die so großzügig sind wie meine Mutter. Ich wünsche mir eine komische Rolle. («Theater heute», Jahrbuch 1988)


Theater heute Februar 2025
Rubrik: Akteure, Seite 36
von Hannelore Hoger

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