​​​​​​​Ein echter Gewinn

Was man von Charly Hübner über Uwe Johnson, seine ostdeutsche Sozialisation und Sprachbehandlung lernen kann

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Am Anfang von Charly Hübners 108-Seiter «Wenn du wüsstest, was ich weiß» steht eine steile These. «Uwe Johnson» – so hörte sich der Schauspieler eines Tages in einer Drehbuchbesprechung mit zwei Autoren sagen – «ist eh der größte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

» Dann folgt, der schlagartig eingetretenen Stille und Irritation, ja leichten Empörung (und Thomas Mann?) zum Trotz, ein nachdrückliches Bekenntnis: «Ich komme … nicht darum herum zu gestehen, dass etwas in mir diese überspannte Übertreibung als gerechtfertigt ansieht und sich darin auch sehr, sehr sicher ist.»

Zum Glück für die Leserinnen und Leser darf man an dieser Stelle schon mal spoilern. Denn die Beweisführung, die Hübner auf den folgenden Seiten antritt, erweist sich tatsächlich als höchst anregende Lektüre. Es handelt sich – dies stellt er gleich zu Beginn klar – um eine zutiefst persönliche Auseinandersetzung mit Johnsons Texten, die zwar den Stand der literaturwissenschaftlichen Forschung durchaus zur Kenntnis genommen und auch den einen oder anderen Archivbesuch nicht gescheut hat, die aber keine Sekunde lang auf die Idee käme, den germanistischen Diskurs auch nur ansatzweise bereichern zu wollen.

Im Grunde teilt Hübner in einer Art Close-Reading-Verfahren – unterteilt in neun kurze Ka -pitel, die er «Versuche» nennt – sein Leseerlebnis des 1934 geborenen Autors, der nach dem Krieg zunächst im Ostsektor studierte und arbeitete, schließlich 1959, zwei Jahre vor dem Mauerbau, in den Westen übersiedelte und dessen literarisches Leitthema in vielerlei Hinsicht der Topos der Grenze bleiben sollte.

Spannend ist insbesondere Hübners Exegese der «Jahrestage» und der «Mutmaßungen über Jakob» natürlich genau und ausschließlich deshalb, weil dieses persönliche Leseerlebnis, das er teilt, über individuelle Befindlichkeitsauskünfte hinausreicht, und zwar vorrangig auf zwei Ebenen.

Zum einen schildert Hübner mittels seiner Johnson-Begeisterung en passant den Sozialisationsprozess einer spezifischen Generation – nämlich der Ostdeutschen, die beim Mauerfall 1989 gerade volljährig und in nachgerade existenzieller Weise bedürftig nach dem adäquaten Mindset waren: möglicherweise die letzte Generation, die ihr kulturelles Referenzsystem hauptsächlich an geschriebener (kanonischer) Literatur ausbildete. Wunderbar selbstironisch und gerade deshalb in der Sache so todernst beschreibt der gebürtige Mecklenburger Hübner, wie er – wegen kurzzeitiger innerfamiliärer Differenzen in der Bewertung des realsozialistischen Exodus – als Teenager zu Hause aus- und in ein Forsthaus am Waldrand zog, in welches Monat für Monat neue weltliterarische Werke eines «Buchclubs» flatterten, bis eines schönen Tages – «und in diesem Fall möchte ich eher sagen rumsten» – auch die «Jahrestage» darunter waren.

Akribisch am Romantext entlang erklärt Hübner, inwiefern nicht nur der mecklenburgische Schauplatz eines der Handlungsstränge damals auf derart fruchtbaren Teenager-Boden fiel («Weltliteratur aus der Heimat also? Das war neu … Das war wirklich cool»), sondern auch Johnsons dezidierte Verweigerung jedweder Action- und Suspense-Dramaturgie, die dem Leser Co-Working abverlangt, statt ihm eine Konsum-Erfahrung zu bieten: synapsenforderndes Switchen im erzählten Nebeneinander historischer Zeiten und Schichten, das plötzlich so viel plausibler erschien als die Illusion einer wohlsortierten Zielgerichtetheit. Der zweite Punkt, der Hübners übrigens wunderbar locker und lakonisch geschriebenes Büchlein mindestens für Theater-Afficionados weithin anschlussfähig macht, sind die aufschlussreichen Einblicke, die hier in schauspielerische Textarbeit geboten werden. «Es kam oft vor, dass ich während des Einlesens … aus der Kurve flog, weil ich zu schnell, zu sicher, zu gekonnt sein wollte», gibt der Schauspieler, der mehrere Johnson-Werke als Hörbücher eingelesen hat, zu Protokoll und präzisiert en détail, wie und unter welchen Behandlungsbedingungen diese höchst spezielle und spezifische Sprache überhaupt nicht mehr «sperrig oder geziert» wirkt (worin einer der Hauptvorwürfe von Uwe-Johnson-Skeptikern besteht), sondern vielmehr «folgerichtig, geradezu logisch, plauderhaft und von großem Understatement». In einer derartigen Close-Reading-Konkretion bekommt man tatsächlich selten die Gelegenheit, einem Schauspieler bei der Arbeit zu hospitieren: ein echter Gewinn! 

Charly Hübner: Wenn du wüsstest, was ich weiß … Der Autor meines Lebens
Suhrkamp, Berlin 2024, 125 Seiten, 20 €


Theater heute Dezember 2024
Rubrik: Bücher, Seite 32
von Christine Wahl

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