Hauptsache Hauptstadt
Am Vormittag des 12. November 2019 versammelt sich im Rathaus der niederösterreichischen Landeshauptstadt St. Pölten eine von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) und Bürgermeister Matthias Stadler (SPÖ) angeführte Gruppe. Die Stimmung ist aufgekratzt, siegessicher verfolgt die Delegation per Livestream, welche österreichische Stadt sich – nach Graz 2003 und Linz 2009 – im Jahr 2024 mit dem Titel «Kulturhauptstadt Europas» schmücken darf. Als die Entscheidung fällt, gehen im Rathaus von St.
Pölten die Mundwinkel nach unten: Überraschend hat die oberösterreichische Stadt Bad Ischl (samt der Region Salzkammergut) den Zuschlag bekommen.
Aber nur wenige Minuten nach der Niederlage präsentieren Mikl-Leitner und Stadler einen Plan B: Viele für das Kulturhauptstadtjahr geplante Projekte finden trotzdem statt. «Wir werden Europa durchaus zeigen, was es verpasst», lässt der Bürgermeister trotzig wissen. Statt offiziell Kulturhauptstadt Europas nennt St. Pölten sich nun eben inoffiziell «Landeskulturhauptstadt». Hauptsache Hauptstadt. Die Tangente St. Pölten, ein groß angelegtes «Festival für Gegenwartskultur», brachte von Ende April bis Anfang Oktober nicht nur Theater und Performance, sondern Kunst aus allen Sparten in die 30 Bahnminuten westlich von Wien gelegene 60.000-Einwohner-Stadt. Entlang der Flüsse Traisen und Mühlbach wurde zum Beispiel der Freiluft-Kunst-Parcours «The Way of Water» installiert (apropos way of water: der Parcours wurde im September von einem verheerenden Hochwasser geflutet); auf dem Domplatz fanden Open-Air-Konzerte statt; außerdem gab es natürlich auch partizipative Projekte, Workshops usw.
Als künstlerischer Leiter der Tangente war zunächst der Dramaturg und Kurator Christoph Gurk engagiert worden, der aber löste seinen Vertrag im Juni 2023, ein knappes Jahr vor der Eröffnung, wegen «unauflösbarer Differenzen» mit der Geschäftsführung auf. Ersetzt wurde Gurk von Tarun Kade, der bereits im Kurator:innenteam des Festivals gewesen war. Im szenischen Bereich waren Arbeiten von Philippe Quesne («Der Garten der Lüste») und Lola Arias («The Days Out There») oder der von Caroline Barneaud und Stefan Kaegi kuratierte Outdoor-Performance-Parcours «Shared Land -scapes» (TH 10/23) – alle von der Tangente koproduziert – zu sehen. Außerdem arbeitete das Festival mit den lokalen Theaterinstitutionen zusammen.
Eröffnung mit Milo Rau
Für die Eröffnungsproduktion, Milo Raus dokumentarisches Musiktheaterprojekt «Justice», hat das Festival nicht nur mit der Genfer Oper, sondern auch mit dem Festspielhaus St. Pölten gemeinsame Sache gemacht. Im Mittelpunkt der Oper (Musik Hèctor Parra) steht eine Katastrophe, die sich 2019 in der Demokratischen Republik Kongo ereignete: Ein mit Schwefel -säure beladener Tankwagen kollidierte mit einem Bus, der Unfall hatte mehr als 20 Tote, zahlreiche Schwerverletzte sowie kontaminierten Boden zur Folge. Die Nachkommen der Opfer wurden mit Entschädigungszahlungen (1000 Dollar für einen verstorbenen Erwachsenen, 250 Dollar für ein Kind) abgespeist, zu einem Gerichtsverfahren kam es nicht. Das möchte Rau nun auf seine Art nachholen.
Das Libretto für «Justice» hat der kongolesisch-österreichische Autor Fiston Mwanza Mujila geschrieben, der – als eine Art Moderator des Abends – auf der Bühne anwesend ist. Er ist kein Schauspielprofi und dennoch der souveränste Darsteller einer szenisch bewusst schlicht gehaltenen, im Stil einer Stellprobe inszenierten Aufführung. Im Hintergrund der Bühne ist der umgestürzte Tanklaster zu sehen, davor eine lange Tafel, an der die Sänger:innen sitzen; lose Rahmenhandlung ist ein zynisches Charity-Dinner, das von dem für den Unfall verantwortlichen Schweizer Unternehmen und einer CEO veranstaltet wird.
Auf die Bühne werden Videos projiziert, sie zeigen einerseits Ori -ginalbilder von der Unfallstelle, andererseits Videos, die Rau mit Überlebenden geführt hat. «Ich war wie ein Gott», sagt ein junger Mann, der bei dem Unfall seine Beine verloren hat. «Jetzt bin ich ein Niemand.» Aber als wäre das Material nicht stark genug, greift Milo Rau auch tief in den Pathos-Topf. Beklagt etwa ein Kind auf der Bühne den Tod seiner Mutter, werden dazu Videobilder von großen Kinderaugen eingeblendet. Einspruch, euer Ehren!
Requiem für den Verbrennungsmotor
Mit dem Landestheater Niederösterreich hat das Tangente-Festival zwei Inszenierungen koproduziert, darunter «Alfa Romeo und die elektrische Giulietta» von und mit dem niederländischen Kollektiv Wunderbaum. Die Stückentwicklung ist eine Hommage an die untergehende Welt des Verbrennungsmotors; Basis für den Text waren Interviews mit Fans und Kennern der italienischen Automarke Alfa Romeo. Auf der Bühne stehen sechs – von Schauspieler:innen verkörperte – «Alfisti», die zu einer Art Vereinsabend zusammengekommen sind. Giulio aus Rom (Simone Cammarata) fährt einen 147 GTA und rattert in seinem Auftrittsmonolog sämtliche technischen Daten seines Autos runter; Jackie aus Holland (Marleen Scholten) bittet darum, den Motorensound ihres Alfa einzuspielen, was zunächst nicht nach Wunsch funktioniert («Nein, das ist eine Alfetta!») und sie dann zu Tränen rührt; Manfred aus Berlin (Tobias Artner) ist mit dem Prototyp des ersten elektrisch betriebenen Alfa Romeo da – was betretenes Schweigen in der Runde auslöst.
Die Musik spielt in der Aufführung eine wichtige Rolle, «weil unsere Gefühle für Alfa größer sind als Worte». Der Abend beginnt schon mal mit einer minutenlangen Ouvertüre aus Motorensounds, und zum Ensemble gehört auch eine Sängerin (Jamie Petutschnig). In einer ihrer Arien besingt sie das für seine Rostanfälligkeit berüchtigte Modell Alfasud, während der alte Tazio (Giovanni Franzoni) in einem Monolog den Niedergang der Marke beklagt. Das ist dann wirklich große Oper, aber von solchen Momenten gibt es zu wenige. Der auf sympathische Weise aus der Zeit gefallene Abend erinnert an einen Halbstarken, der im Leerlauf aufs Gaspedal steigt und den Motor röhren lässt – dann aber nie richtig in die Gänge kommt.
Zwei Königinnen in einer
Die zweite Koproduktion von Tangente und Landestheater war eine «Maria Stuart»-Inszenierung von Amir Reza Koohestani. Der iranische Regisseur, im deutschsprachigen Theater kein Unbekannter, habe Schiller «unter der Linse der Proteste mutiger Frauen im Iran» inszeniert, war in den Ankündigungen des Festivals zu lesen. Das leuchtet einerseits ein – schließlich handelt das Stück von einer politischen Gefangenen –, erscheint andererseits aber auch fragwürdig: Was hat der Machtkampf britischer Königinnen aus dem 16. Jahrhundert mit der Unterdrückung junger Frauen im Mullah-Regime des heutigen Teheran zu tun?
Tatsächlich ist der Aufführung dann aber ohnedies nicht anzusehen, dass sie auf aktuelle Verhältnisse im Iran abzielt. In ihrer Überschreibung geht es der Autorin Mahin Sadri, einer langjährigen Mitstreiterin Koohestanis, hauptsächlich um Verdichtung. Gerade einmal 100 Minuten lang ist das Stück in ihrer Fassung, nur sieben Figuren sind übrig -geblieben: Neben den Königinnen und dem hier weiblich gelesenen Gefängniswärter Paulet (Bettina Kerl) stehen je zwei Dienerinnen und Vertraute auf der Bühne.
Aus Maria Stuarts Amme Hanna Kennedy werden hier die Schwestern Hanna (Caroline Baas) und Kennedy (Marthe Lola Deutschmann), eine ist Dienerin bei Elisabeth, die andere bei Maria. Mortimer (Lukhanyo Bele) wird auf der Besetzungsliste ganz offen als «Marias Liebhaber» ausgewiesen, so wie Leicester (Clara Liepsch) als «Elisabeths Geliebte». Überhaupt geht die «Virgin Queen» hier expliziter zur Sache als bei Schiller. «Küss mich und zerreiß mich mit deinen weißen Zähnen», soll Elisabeth zu Leicester gesagt haben. «Das hat sie wirklich so gesagt?», fragt Maria nach. Ja, bestätigt Hanna. «Ihre Hoheit war sehr betrunken.»
Der wichtigste Eingriff aber besteht darin, dass Elisabeth und Maria von derselben Schauspielerin dargestellt werden. «Wir wollten mit unserer Konzeption die Unterschiede reduzieren und zeigen, dass jede auch am Platz der anderen sein könnte», sagt Mahin Sadri dazu. Julia Kreusch ist in ihrer Doppelrolle dann auch gar nicht besonders darum bemüht, zwischen den Figuren groß zu differenzieren. Beide Königinnen stattet sie mit depressivem Ennui und passiv aggressiven Untertönen aus; der äußerlich auffälligste Unterschied besteht darin, dass Elisabeth Deutsch spricht und Maria Englisch. Die beiden Königinnen als eine Figur zu denken, ist eine interessante Lesart, die unter anderen Umständen aufgehen könnte. Hier scheitert es daran, dass die Inszenierung um die Hauptfigur herum zu wenig konkret ist und auch schauspielerisch Schwächen hat.
Der französische Marthaler
Wäre St. Pölten tatsächlich Kulturhauptstadt Euro -pas geworden, hätte es dafür ein 60-Millionen-Budget gegeben, ein Teil davon wäre in infrastrukturelle Projekte geflossen. (Das Kinderkunstlabor, ein zeitgenössisches Ausstellungshaus für junges Publikum, wurde trotzdem realisiert.) Die 17,6 Millionen Euro, die die Tangente letztlich zur Verfügung hatte, sind angesichts der langen Laufzeit – es sollte ja zumindest die Anmutung eines Kulturhauptstadtjahrs entstehen – gar nicht so üppig, Bad Ischl etwa hat -te fast doppelt so viel (30 Millionen Euro) zur Verfügung.
Grundsätzlich ist es schwierig, das Interesse an einem Festival über so lange Zeit am Köcheln zu halten. Gespielt wurde bei der Tangente deshalb auch nicht fünf Monate am Stück, sondern das Programm konzentrierte sich auf drei jeweils einem Thema gewidmete Schwerpunkte im Mai («Ökologie»), Juni («Erinnerung») und September («Demokratie»). Aufgegangen ist das nicht so ganz, gerade die internationalen Theaterproduktionen wurden nicht gerade gestürmt. Von Philippe Quesnes «Der Garten der Lüste» etwa waren im Festspielhaus zunächst zwei Vorstellungen angesetzt; stattgefunden hat letztlich nur eine, und die war nicht voll.
In dem Stück, uraufgeführt 2023 in Avignon (siehe TH 10/23), strandet eine illustre Reisegruppe in the middle of nowhere. Die Damen und Herren steigen sogleich aus dem Bus, setzen ein riesiges Ei in die karge Landschaft und packen ihre Blockflöten aus, während der Chauffeur statt ins Lenkrand in die Tasten eines E-Pianos greift. Der Bus verwandelt sich in eine Bühne, das Ensemble bildet Lesekreise, formiert sich zu bizarren Körperskulpturen, rezitiert Gedichte oder singt Lieder. Dass Philippe Quesne der französische Bruder von Christoph Marthaler ist, war noch nie so deutlich zu erkennen wie an diesem durch und durch musikalischen Schauspiel.
X Wohnungen revisited
Sein Konzept, das Publikum in Kleingruppen auf einen Parcours durch Wohnungen und andere nicht-öffentliche Räume zu schicken, wo Mini-Performances geboten werden, hat Matthias Lilienthal zum ersten Mal 2002 unter dem Logo «X-Wohnungen» in Duisburg umgesetzt – und dann auch noch in vielen weiteren Städten Europas, Afrikas und Südamerikas realisiert. Für die Tangente St. Pölten hat er es nun – zusammen mit Helena Eckert und Friederike Kötter – als «X-Erinnerungen» wiederbelebt. Dass das Format mehr als 20 Jahre auf dem Buckel hat, ist kein Problem, weil die Performances jeweils neu sind. Im Rahmen von drei verschiedenen Touren können insgesamt 21 jeweils nur ein paar Minuten lange Stücke erlebt werden; gemeinsames Thema ist Erinnerung.
Das Schöne an dem Konzept ist, dass man dabei automatisch auch die Stadt erkundet, in der es stattfindet. Die «Route Norden» führt etwa in ein gruseliges leerstehendes Einfamilienhaus oder an den Viehofner See, wo im Beitrag des Kollektivs Institut für Medien, Politik & Theater die konservative Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (Maxi Blaha) von der ÖVP und ihr rechtsextremer Stellvertreter Udo Landbauer (Felix Hafner) von der FPÖ absurde Reden schwingen («Weg von der Konfrontation, hin zur Kooperation!»), ehe – Überraschung! – ein Wutbürger (Samouil Stoyanov in Badehose) aus dem Wasser steigt und die Politiker mit der NS-Vergangenheit des Sees konfrontiert, als sich dort ein Zwangsarbeitslager befand.
Mehr Eindruck als diese etwas plumpe Polit-Satire macht der Beitrag von Seba Kayan, einer bildenden Künstlerin und DJ, deren Vater in den 1970er Jahren aus der Türkei nach St. Pölten gekommen war, um in der Glanzstoff-Fabrik zu arbeiten. Die Fabrik wurde inzwischen geschlossen, die Gebäude stehen zum Teil aber noch da. Das gilt auch für die werkseigene Kegelbahn gleich neben dem Fabrikgelände, wo Seba Kayan die Tangente-Gäste empfängt und ihnen von ihrem Vater erzählt, der sich nebenan buchstäblich zu Tode gearbeitet hat. In der Kegelbahn, die noch in Betrieb ist, war er übrigens nie; da blieben die österreichischen Arbeiter lieber unter sich.
Auf einer großen Brachfläche hinter dem Fabrikgebäude haben Susanne Kennedy und Markus Selg die Land-Art-Installation «Wasteland» eingerichtet (die aber unabhängig von «X-Erinnerungen» stattfindet und mit Theater nur noch rudimentär zu tun hat). Gleich vis-à-vis von der Kegelbahn zeigen Regisseur Tim Etchells und Performer Augusto Corrieri in einer Wohnung ihren Beitrag. Corrieri spielt einen Magier und präsentiert im Wohnzimmer ein paar kleine Zaubertricks. Als ich einige Minuten später wieder draußen vor der Tür stehe, hat er noch einen letzten Trick auf Lager. Ich solle die Augen schließen, sagt er, und dreimal klopfen. «Danach wird es sein, als wären wir einander nie begegnet.» Er schließt von innen die Tür, ich klopfe dreimal und werde den charmanten Zauberer noch lange in Erinnerung behalten.
Theater heute November 2024
Rubrik: Festivals, Seite 40
von Wolfgang Kralicek
Überall herrscht Mangel, ob in Kitas, Schulen oder Krankenhäusern. Und das in Deutschland, dem wirtschaftlich stärksten Land der Europäi -schen Union. Doch die großen Investitionen bleiben aus. Zu viele Staatsschulden. Noch mehr davon sind auf keinen Fall drin: Die Schuldenbremse muss schließlich eingehalten werden. Doch was wäre, wenn jede Person dieses Landes seinen Anteil an den...
Neue Stoffe für die Bühne, mal was anderes als die Klassiker, bei denen sich da über die Jahrzehnte und -hunderte zu viel weltbildlicher Staub auf dem Kanon-Rücken angesammelt hat. Na, dann macht mal, muss sich Volkstheater-Intendant Christian Stückl gedacht haben, lässt er die Spielzeit doch von zwei Regisseurinnen mit frischen Stoffen eröffnen: Yorgos Lanthimos’ Film «The Lobster» und...
Sarah Calörtscher hat es mit einer gründlich desillusionierten Menschheit zu tun. Im «Herz aus Polyester» kämfen die Erdlinge mit zwei unschönen Problemen: Ihr Planet wird nachhaltig unbewohnbar, und es grassiert eine Seuche, die bei den Betroffenen für langsame Plastifizierung sorgt. Es beginnt in den Fingerspitzen, die zunehmend taub werden, bis die armen Plastifikanten durch und durch...