Wir lieben Brandenburg, Brandenburg liebt uns

Kolumne

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MULTIPERSPEKTIVISCH erschien uns immer als ein schönes Antrags- und Programmheftwort. Ein Glasprisma, in dem sich das eintönige weiße Licht in all die bunten Farben des Regenbogens bricht. Bis uns auf einem multiperspektivischen Festival eine nationale Feministin aus dem Mädelring Thüringen begegnete. Spontane Reak -tion: alle Farben außer Braun! Dann kam eine Hamas-Versteherin und ein Klimawandel-Leugner hinzu. Zwischen Theater Magdeburg, Schaubühne Berlin, Möbel Olfe und Festival Osten unterwegs zu sein, ist wie per Anhalter durch die Galaxie.

MULTIPERSPEKTIVITÄT ist da ein Euphemismus, MULTIVERSALITÄT wäre richtiger. Wir treffen Menschen mit ähnlichen (paranoiden) Perspektiven auf jeweils unterschiedliche Universen. Parallelwelten mit ganz eigenen Naturgesetzen, Sprachen, Kulturgeschichten, Bezugssystemen. Alle bestens informiert, werfen sie sich gegenseitig Realitätsverlust vor. Die von den Nationalstaaten mühevoll geformte gemeinsame Wirklichkeitvorstellung, so scheint es, ist am Zerfallen. Wir müssten wieder streiten lernen, heißt es oft. Streiten kann man allerdings nur, wenn man über das gleiche Universum spricht. Ein Streit über die Temperatur der Hölle ist nur dann sinnvoll, wenn es in den Universen der Beteiligten so etwas wie ein Leben nach dem Tod überhaupt gibt.

Besessen vom Wolf

In Brandenburg, zum Beispiel, sind die Menschen besessen vom Wolf. Für die Bewohner:innen des einen Universums handelt es sich dabei um ein Symbol der Versöhnung mit der Natur. Für die Be -wohner:innen eines anderen um ein lebensbedrohliches Raubtier. Für wieder andere ist es ein Zeichen für die Herrschaft urbaner Eliten über die ländliche Bevölkerung. Der Wolf selbst lebt, wie wir seit Jakob von Uexküll wissen, noch einmal in seiner ganz eigenen Welt. Weil es sich also beim Wolf in Brandenburg um ganz verschiedene Phänomene, Zeichen oder Symbole handelt, erweist sich Reden als nicht besonders produktiv.

Für die Kunst ist das keine schlechte Nachricht. Nicht etwa, weil sie in der Lage wäre, wieder gemeinsame Wirklichkeitsvorstellungen herzustellen. (Vorsicht: Größenwahn!) Sondern weil sie die unterschiedlichen Universen effektvoll kollidieren lassen kann. Der große spätmittelalterliche Performancekünstlers Franz von Assisi, zum Beispiel, trat ausgerüstet mit einem Wanderstock, einer Bibel und einer Flöte in der Nähe der Stadt Gubbio einem Wolf entgegen, spielte Flöte, vollführte einige symbo -lische Gesten und sprach die Worte «Komm zu mir, Bruder Wolf! Ich befehle dir: Tu niemandem was zuleide!» Knapp 800 Jahre knüpfte Beuys daran an: Fünf Tage lang ließ er sich in New York mit dem Kojoten Little John einschließen. Für die Performance, die unter den Titeln «I like America, America likes me» bekannt wurde, hatte er einen Hirtenstab, ein «Wall Street Journal» (Bibel) und eine Triangel (Flöte) bei sich. Glaubt man den Berichten, zerrte der Kojote zwar gelegentlich wütend am Filzmantel des Performers, wurde aber im Laufe der Performance immer zutraulicher.

Wegweisend an beiden Arbeiten scheint uns, dass sie den Wolf/ Kojoten durch direkte Ansprache aus den Bezugsrahmen der verschiedenen Universen heraus locken. Das ist sicher auch mit an -deren Phänomenen/Zeichen/Symbolen möglich. Zum Beispiel mit der verhassten Wärmepumpe. Oder mit der Schwarzen Null. Vielleicht sogar mit der/die Brandenburger*in selbst. Wir müssten es nur versuchen.

LYNN T MUSIOL, aufgewachsen im Rheinland. lynn t’s Arbeiten beschäftigen sich mit der Verflechtung von Klasse und Begehren, lesbian histories, und queerer Ökologie, die in interdisziplinären Überlappungen und der Praxis des queeren Formens zusammenfließen. Dey ist Mitgründer*in von dyke dogs und dem performativen Zusammenschlusses les dramaturx. Am Schauspielhaus Hamburg zeigt lynn t musiol aktuell die performativ-diskursive Reihe BUCCI × ꒰(・ ‿ ・)꒱.

CHRISTIAN TSCHIRNER, geboren 1969 in Lutherstadt Wittenberge, studierte nach einer Ausbildung im Leipziger Zoo Schauspiel an der Berliner Hochschule für Schauspiel Ernst Busch und war an verschiedenen Theatern engagiert. Seit 2009 Dramaturg am Schauspiel Hannover, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und an der Berliner Schaubühne. Autor zahlreicher Stücke unter dem Pseudonym Soeren Voima, Mitbegründer von les dramaturx


Theater heute Oktober 2024
Rubrik: Magazin, Seite 71
von lynn t musiol und Christian Tschirner

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