Demokratische Selbstwirksamkeit
In Sachsen wird dieses Jahr die Demokratie verteidigt. Auch in Thüringen und Brandenburg. Drunter wird das nichts. Die Erzählung wird überall die gleiche sein: Antidemokraten gegen Demokraten. Mit dem Ergebnis kurioser Parteienbündisse und Parteivorsitzender in Erklärungsnot sowie einer rechten Minderheit (auch 30 Prozent sind eine Minderheit), die lauthals nach Mitbestimmung verlangt.
Nach meinen letzten Wahlen für die Demokratie (Görlitzer Bürgermeister- und Stadtratswahl 2019, Wahl zum Europaparlament 2019, Bundestagswahl 2021, Görlitzer Landratswahlen 2022 und zuletzt die Kommunal- und Europawahlen 2024) kann ich versichern, dass die Demokratie seither nicht wirklich besser geworden ist. Wie auch, wenn das politische Berlin samt Hauptstadtpresse auf die Frage nach den AfD-Erfolgen bislang die falschen Antworten findet?
Alle Parteien des politischen Spektrums ziehen aus dem Erstarken rechter Wählergruppen europaweit den gleichen psychologisierenden Schluss, dass die Wähler enttäuscht seien. In Deutschland wird dann gern noch über den Osten und die entmündigenden Nachwendeerfahrungen gemunkelt, in der These unterstützt durch ostdeutsche Intellek -tuelle. Grundtenor: Alles richtig schlimm. Stimmt ja bisweilen auch. Ist aber sehr unterkomplex gedacht.
Wahrscheinlich ließen sich mittlerweile ganze Bibliotheksregale mit Büchern über die sogenannte ostdeutsche Erfahrung nach der Wiedervereinigung füllen und ja, wahrscheinlich würden auch meine Bücher da zu finden sein. Ich sage das in diesem Fall nicht mit Stolz. Es ist ja auch so schön bildlich: Industrie bricht weg, Staat bricht weg, ergo ist die Enttäuschung darüber groß. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Enttäuschung aus ihren sozioökonomischen Deutungsansätzen zu lösen, um endlich ein wenig voranzukommen.
Denn faktisch sind die Einkommen, Renten und Vermögen gewachsen. Zwar steigt auch die Ungleichverteilung von Vermögen, allerdings scheint das nur wenig Auswirkung auf das Wahlverhalten zu haben. So ist in den letzten Jahrzehnten die Ungleichheit nur in drei west -europäischen Ländern nicht oder nur sehr wenig gestiegen. Das sind Frankreich, Österreich und die Niederlande. Also genau jene Staaten, in denen rechtspopulistische Parteien zuerst erfolgreich waren und bis heute sehr erfolgreich sind. Und dass sich in der Türkei, in Indien und Polen, also ausgerechnet in jenen Ländern, die besonders stark von der Globalisierung profitierten, autoritäre Kräfte durchgesetzt haben, können sozioökonomische wie kulturelle Ansätze ebenso wenig erklären. Zeit für einen dritten Ansatz: den demokratischen.
Die Stimmung an der Basis in den 1980ern
Im Bundesarchiv lassen sich zahlreiche Berichte der Stasi finden, die über die Stimmung an «der Basis» Auskunft geben, worin sich zeigt, dass die Unzufriedenheit mit Staatspartei und Machtelite ab Mitte der 1980er Jahre dramatisch steigt. Die SED bekommt ihre renitenten Genossen nicht mehr in den Griff, die Zahl der Austritte und Disziplinarverfahren erreicht Ende der ’80er ihren Höhepunkt. Hauptkritikpunkte sind das Missmanagement der Partei in puncto Industrie-, Warenund Wirtschaftspolitik, aber auch, vor allem unter den jüngeren Mitgliedern, die fehlende Bereitschaft zu Reformen für mehr Mitbestimmung und Teilhabe. Richtig, irgendwann tauchten auf den Montagsdemonstrationen auch Plakate auf, auf denen stand, dass man sich die D-Mark wünschen würde, und ja, da ist auch allerhand nationalistischer Stuss dabei, im Kern handelte es sich jedoch um Protest, der die demokratische Reformation eines verkrusteten Einparteienstaates einforderte. Daraus wurde nichts Geringeres als die erste friedliche Revolution auf deutschem Boden.
Worauf ich hinaus möchte: Was, wenn die Enttäuschung in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft nichts mit einem kolportierten Schmerz über den Verlust einer alten Welt zu tun hat, sondern mit dem Ausbleiben der erhofften demokratischen Partizipation? Nun kann man mir berechtigt entgegenhalten, dass wir heute in einer Demokratie leben würden und dass gesellschaftliche Mitbestimmung möglich sei. Ja, vollkommen richtig. Allerdings ist die Zustimmung für die Demokratie als Staatsform seit Jahrzehnten unverändert hoch, während zum Beispiel die SPD, (Achtung, Transparenzhinweis!) deren Mitglied ich bin, es seit über dreißig Jahren nicht schafft, mehr Mitglieder in ganz Sachsen zu gewinnen (Stand jetzt um die 5000) als eine mittelgroße Stadt in Nordrhein-Westfalen bereits Mitglieder hat. Gleiches gilt für Neumitglieder in Gewerkschaften bei ebenfalls weiterhin steigenden Kirchenaustritten. Kurzum: Unsere Institutionen zur gesellschaftlichen und politischen Teilnahme lösen sich schleichend auf und werden bisher durch keine neuen ersetzt. Parteien als bürogewordene Transmissionsriemen der Macht sind in unserem politischen System unerlässlich und daher besonders zu betrachten. Sie organisieren Mehrheiten, indem sie eine Art interessengeleitete Arbeitsstruktur bilden. Dass große Teile der deutschen Bevölkerung (auch im Westen sinken die Mitgliederzahlen) sie mit Nichtbeachtung strafen und offenbar nicht daran glauben, dass eine Mitgliedschaft sich positiv auf die Veränderung selbsterkannter Problemstellen auswirken kann, ist ein bitterer Befund, und er ist, hier wird es spannend, nur verständlich.
Parteienüberdruss
Verständlich ist er aus mehreren Gründen. Erstens bildet der Bundestag unsere Gesellschaft in ihrer Vielfalt nicht ab. Nichtakademiker:innen sind chronisch unterrepräsentiert, faktisch handelt es sich beim Bundes -tag um ein Studiertenparlament. Gleiches gilt für Menschen mit Migrationshintergrund und in einigen Fraktionen sogar für Frauen. Parlamente waren nie getreue Abbilder von Gesellschaft. Allerdings führt die numerische Unterrepräsentation bestimmter Gruppen auch zu einer Unterrepräsentation bestimmter politischer Meinungen und im Ergebnis zu einer Unwucht politischer Entscheidungen für bestimmte Gruppen. So zeigt sich, dass der Bundestag Politikänderungen eher umsetzt, wenn diese von Berufsgruppen mit höherem sozialen Status (Selbstständige, Beamte) und höheren Bildungs- und Einkommensgruppen mehrheitlich befürwortet werden.
Zweitens war die Zahl sogenannter NMIs, also nichtmajoritärer Institutionen wie Verfassungsgerichte, Zentralbanken, Expert:innenräte oder Lobbygruppen, die Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, noch nie so hoch wie heute. Ab Ende der 1970er Jahre haben so gut wie alle Parlamente westlicher Industrienationen Kompetenzen auf diese NMIs übertragen. Im Zweifelsfall berufen sich Regierungen lieber auf diese epistemischen und moralischen Instanzen, um das vermeintlich Richtige zu tun, als langwierige Mehrheitsentscheidungsprozesse zu initiieren. Hinzu kommt, dass mit den Institutionen der europäischen Union eine weitere politische Ebene Einzug erhalten hat, die nationale Parlamente in ihrer Entscheidungsgewalt zunehmend aushöhlt.
Man könnte also polemisch fragen: Wozu noch engagieren? Bringt doch eh nichts. Rechtspopulisten haben aus dieser Frage ein Geschäftsmodell gemacht. Sie summieren die aufgezählten Befunde zu einer «Elite», die gegen das Volk regieren würde. Anstatt sich strukturell mit dieser tatsächlichen Entfremdung politischer Entscheidungsprozesse auseinander -zusetzen, fordern sie, Europa zurückzudrängen, Gerichte zu beschneiden und dem vermeintlichen Volkswillen qua Volksabstimmungen mehr Gehör zu verschaffen. In unseren europäischen Nachbarstaaten wird das in Ansätzen praktiziert, die Muster nach der Machtübernahme rechter Parteien sind erstaunlich oft die gleichen. Den Demokratien hat das, wenig überraschend, aber vor allem weiter geschadet. Rechtspopulisten geht es nie um die Demokratie oder um das Volk. Einmal in der Regierung, ist ihr einziges Ziel, die Spielregeln der Demokratie und den Rechtsstaat so zu verändern, dass Opposition und unabhängige Kontrolle unmöglich werden. So sichern sie sich dauerhaft ihre Macht und vermeiden die Organisation von Gegenmacht.
Es liegt also an uns, die benannte Schieflage an Repräsentation und Responsivität anzuerkennen und in Reformen für die Demokratie umzusetzen, anstatt über das dritte, vierte finanzielle Entlastungspaket zu debattieren und zu glauben, «gute Politik» könne Wähler zurückge -winnen. Diese Krise der Demokratie lässt sich nicht durch schöne Worte wegmoderieren.
Mehr Demokratie wagen
Drei Vorschläge zur Losung «Mehr Demokratie wagen» möchte ich unterbreiten und damit unserer gegenwärtigen demokratischen Entfremdung entgegenwirken. Sie haben (Liberale bitte nicht mehr weiterlesen) mit Zwängen und Pflichten zu tun.
Ein möglicher erster Vorschlag könnte lauten, die AfD zu verbieten. Die in Folge der Correctiv-Recherche größten gesamtdeutschen Demonstrationen seit der Wiedervereinigung hatten genau dies als For -derung. Nun bedeutet nicht jede Demonstration ein politisches Mandat. Das würde unser politisches System unabsehbar überlasten. Dass aus den Demonstrationen jedoch gar nichts folgte, nichts, ist Gift für die Erfahrung demokratischer Selbstwirksamkeit, um die es in diesem Text geht.
Ein Verbotsverfahren hat nicht durch Politiker oder Parteien bewertet zu werden, sondern durch Gerichte, idealerweise gefordert durch ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis. Entscheiden diese Gerichte, dass die AfD nicht verboten gehört, ist dies keine Niederlage für die Demokratie, sondern ein Sieg. Nur in einer Demokratie, in der die Gewalten -teilung funktioniert, können solche Urteile gefällt werden. Paradoxerweise wäre ein gescheitertes Verbotsverfahren der AfD demnach sogar gut für die Demokratie. Es wäre in erster Linie ein Beleg für die Funktionalität unseres Rechtsstaates und nicht etwa für die vermeintliche Verfassungstreue der AfD. Ein bisschen mehr Mut zum eigenen Narrativ darf man sich hier durchaus zutrauen.
Fest steht jedoch, dass die hier skizzierten Entfremdungsprozesse von den demokratischen Mehrheitsinstitutionen nicht durch die AfD befördert wurden. Die AfD ist eine Nutznießerin dieser Entwicklung, wie eben auch andere rechte Parteien dieser Welt die ausgehöhlten demokratischen Entscheidungsprozesse für sich zu polemisieren wissen. Die AfD zu verbieten, würde dieses Problem nicht lösen. Eine Reform muss tiefgreifender ansetzen.
Bürgerräte per Losverfahren
Ich schlage daher vor, die Stadt- und Kreistage zu Parlamenten umzustrukturieren, deren Mandate per Losverfahren verteilt werden. Nach über dreißig Jahren gescheiterter Versuche, Parteistrukturen im Osten Deutschlands aufzubauen und der mit Abstand (in Sachsen) niedrigsten Ehrenamtsquote im Bundesvergleich, ist es an der Zeit, demokratische Mitbestimmung, Teilhabe und Teilnahme zu, Entschuldigung, verordnen. Einmal im Leben für vier Jahre Teil eines parlamentarischen Gremiums zu sein und über die unmittelbaren örtlichen Problemlagen zu verhandeln, ist für die demokratische Selbstermächtigung und die Repräsentation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen nur gewinnbringend. Wer danach auf Landes- oder Bundesebene kandidieren möchte, ist frei, dies zu tun. Diese politischen Ebenen lassen sich per Los nicht besetzen. Hier ist die Wahl von politischen Repräsentanten die effektivste Methode, sofern sie, drittens, ihre Entscheidungsfindung durch NMIs transparenter machen.
Per Los Parlamente zu besetzen, ist eine Idee der Antike. In der attischen Demokratie glaubte man nicht an das Prinzip der Repräsentanz; seine Stimme an eine andere Person zu übertragen, galt als undemo -kratisch. Die attische Demokratie hatte ein anderes Verständnis davon, wer Bürger war, und war längst nicht eine so in etliche Milieus ausdif -ferenzierte Gesellschaft wie die unsere. Auch das ist ja eine Erkenntnis der letzten Wahlen: Eine vielstimmige Gesellschaft tendiert zu einer vielstimmigen Wahlentscheidung. Die attische Demokratie konnte viele spätmoderne Entwicklungen nicht voraussehen, wie auch?, aber hat mit dem Losverfahren eine Methode entwickelt, ihnen Rechnung zu tragen. Stadt- und Kreisräte würden automatisch repräsentativer besetzt und politische Entscheidungsprozesse nachvollziehbarer, weil erfahrbarer. Die Probleme auf den anderen föderalen Ebenen wären damit freilich noch nicht gelöst.
Beinahe alle westlichen Industrienationen ringen um Erklärungen für das Erstarken rechter Gruppierungen und verlieren sich in sozio -ökonomischen und kulturkämpferischen Debatten. In Deutschland wird spätestens seit der Gründung der AfD 2013 von den «Gekränkten» und «Enttäuschten» gesprochen. Erklärungsansätze à la «diktatursozialisiert» oder «demokratieungebildet» vor allem in Bezug auf den Osten Deutschlands greifen seither ebenso treffsicher ins Leere, weil sie die politischen Prozessebenen außer Acht lassen.
Die westlichen Demokratien benötigen dringend Reformen, die die Art und Weise ihrer politischen Teilhabe betreffen. Fehlende oder mangelhafte demokratische Selbstwirksamkeit ist die Folie, durch die wir die einschneidenden politischen Entscheidungen der letzten Jahre betrachten sollten. Die Wahl Donald Trumps erfolgte aus dem Wunsch, wieder selbstwirksam gegen eine vermeintliche Elite zu werden. Der Brexit erfolgte aus dem Wunsch, wieder selbstwirksam gegen eine vermeintlich überbordende europäische Integration zu werden. Und auch der Erfolg der AfD lässt sich als der Wunsch nach Selbstwirksamkeit in einem vermeintlich links-grünen Politikumfeld lesen, der im Kern um den Erhalt des Status quo kreist.
Unsere demokratischen Entscheidungsprozesse sind messbar we -niger repräsentativ und weniger responsiv. Das gilt es grundlegend zu reparieren. Kurzfristig lässt sich wohl auch in Sachsen die Demokratie durch Wahlen verteidigen, das stimmt. Langfristig stabilisieren wird es sie dadurch aber nicht mehr.
LUKAS RIETZSCHEL, geb. 1994 in Räckelwitz (Sachsen), spürte mit seinem ersten Roman «Mit der Faust in die Welt schlagen» (2018) dem Lebensgefühl zweier ostdeutscher Brüder nach und beobachtete deren schleichende Radikalisierung; der 2021 erschienene Roman «Raumfahrer» erzählt von entwurzelten Menschen in Zeiten des Umbruchs. Am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau wurde im Januar 2024 sein Stück «Das beispielhafte Leben des Samuel W.» uraufgeführt.
Theater heute Jahrbuch 2024
Rubrik: Streitstoffe, Seite 44
von Lukas Rietzschel
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