Ort für Denkmalpflege
Ich habe mich vor allem in den letzten Jahren sehr über das Stadt- und Staatstheatersystem geärgert. Ich kam als junger Mensch mit Begeisterung ans Theater, weil ich dachte, die Bühne sei der Ort, auf der sich alle Darstellungsmittel auf so spektakuläre Weise verbinden können. Im Gegensatz zu allen anderen Künsten können im Theater wirklich alle Wahrnehmungsebenen mitspielen: der Klang, das Licht, die Bilder, die Körper, die Sprache, die Bewegung, die Musik – wenn man will, sogar der Geruch.
Die Vorstellung davon, dass all diese Mittel fusionieren können und damit eine ganz eigene Welt darstellbar gemacht werden kann, hat mich ans Theater getrieben und mich immer begleitet. Auch wenn die Regieausbildung es einem nicht immer leicht gemacht hat, an den eigenen Zielen festzuhalten, so hat man doch erstmal die Unterstützung und die Freiheiten bekommen, künstlerisch einen eigenen Ausdruck zu finden.
Plötzlich landete ich dann nach meinem Studium im deutschen Stadt- und Staatstheatersystem und musste begreifen, dass es hier in erster Linie überhaupt nicht darum geht, Kunst zu machen, indem man gemeinsam mit einem Team die Ausdrucksmittel unterschiedlich verwendet und verbindet. Es geht darum, einen Kanon aufrecht zu erhalten, konservierte Literatur auf den Spielplan zu stellen und das möglichst so, dass die Schauspieler:innen ihre einst erlernten Schauspieltechniken anwenden können.
Das System im Stadt- und Staatstheater ist oftmals so starr, dass es fast unmöglich erscheint, nicht nach einem vorgegebenem Schema zu inszenieren. Es wundert mich nun überhaupt nicht mehr, warum mich die Arbeiten die ich an deutschen Stadt- und Staats -theatern sehe, zu 85 Prozent als konventionell und uninspiriert empfinde. Am Burgtheater werden Unsummen für maßgeschneiderte Anzüge ausgegeben, weil die Stars nichts anderes tragen sollen – während die Statisterie nicht nur völlig unterbezahlt wird, sondern auch keine Möglichkeit besteht, ihnen Verträge zur Verfügung zu stellen, wo sie verbindlich bei einer Produktion dabei sein können. Die Schauspieler:innen fühlen sich in ihrem Ego gekränkt, wenn sie zugunsten der Gesamtkomposition einer Inszenierung als Teil eines Bildes fungieren sollen und damit dem Bühnenbild eine Co-Präsenz zusprechen. Wenn man ein Konzept erschafft, in dem Mikroports für einen künstlerischen Zweck eingesetzt werden – nämlich nicht nur für eine Hörspielqualität, sondern auch für die Abnahme von intimen Geräuschen –, werden diese einem zwei Wochen nach Probenstart plötzlich wieder verboten, weil eine Holding Mikroports als ein Affront gegen die gute alte Schauspielkunst empfindet.
Als junge Frau musste ich in meinen ersten Jahren am Stadt- und Staatstheater schmerzlich erfahren, wie tief der strukturelle Sexismus alle Bereiche durchzieht, und bin bis heute permanent damit konfrontiert, nicht ernst genommen zu werden.
Dramaturg:innen und Intendant:innen stehen unter einem enormen Druck, möglichst viel Erfolg auf allen Ebenen für das Theater zu erzielen: Die Auslastungszahlen und den überregionalen Erfolg. Natürlich darf man dabei kein Abo vergraulen – eine Zuschauerschicht, die so viel Macht besitzt, dass der eigentliche Grund, warum ich zum Theater gekommen bin: nämlich künstlerisch zu arbeiten, kaum erfüllbar scheint. Künstlerische Arbeit bedeutet meiner Ansicht nach nicht, eine altbewährte Form möglichst gut nachzuahmen und damit zu zementieren – es bedeutet einen immer wieder neuen Ausdruck zu finden, zu forschen und zu experimentieren. Es bedeutet, vor allem auch nicht, etwas zu machen, was dann am Ende eine möglichst breite Masse verstehen und bestätigen soll. Kunst darf und soll irri -tieren und verunsichern – ebenso wie Wut und Diskussion auslösen. Und damit meine ich nicht, dass das Theater elitärer werden soll. Im Gegenteil: Ich plädiere dafür, dass das Theater endlich zugänglicher wird, indem es sich in andere, sinnlichere Ausdrucksmittel traut. Das Theater ist nach wie vor extrem hierarchisch – die Versuche des postdramatischen Theaters, die Mittel auf der Bühne zu enthierarchisieren, scheint mir beinahe gescheitert. Ich erlebe nach wie vor in den Gesprächen mit den Theatern, dass das Primat des Textes – sei er zeitgenössisch oder tradiert –, kaum in Frage gestellt werden darf.
Wir leben in einem unfassbaren Luxus mit unserem subventionierten Theaterbetrieb, aber wenn er vor allem dafür da sein soll, das Altbewährte zu konservieren – und damit meine ich nicht in erster Linie Literatur, sondern Darstellungsweisen –, dann sollte man das Theater vielleicht als Ort für Denkmalpflege bezeichnen und weniger als Ort für Kunst.
RIEKE SÜSSKOW, geboren 1990 in Berlin, freie Regisseurin, studierte an der Theaterakademie in Hamburg. Mit der Uraufführung von Peter Handkes «Zwiegespräch» wurde sie 2023 zum Berliner Theatertreffen eingeladen und 2024 mit Werner Schwabs «Übergewicht, unwichtig: Unform».
Theater heute Jahrbuch 2024
Rubrik: Ärgernisse, Seite 98
von Rieke Süßkow
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