Deine Texte waren unsere Identity Monologe
Bei uns warst du weltberühmt, da kannte dich noch kaum jemand. Auf dem Wilson-Gang im Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft bedauerten wir uns selbst als verlorene Generation. Früher (also neulich), da war alles besser: Wirth! Lehmann! Pollesch! (Dass diese selbsternannte Lost Generation ausgerechnet jene von She She Pop, Showcase, Gob Squad, Rimini Protokoll war, ist natürlich eine lustige Pointe.) In der Hausgötterlegendengalerie nahmst du eine besondere Stellung ein (auch wenn du Moritz Rinke vermutlich nicht höchstpersönlich auf der Probebühne eingemauert hast).
In irgendeinem WG-Wohnzimmer sahen wir im nächtlichen Experimentierprogramm des ZDF «Ich schneide schneller». Dass einer von uns im Fernsehen war, empfanden selbst wir analoge Situationsfetischisten als etwas Besonderes. John Jesurun kam als Gastprofessor aus New York, und wir wunderten uns, wer hier wen nachmachte. Dann «Heidi Hoh», der Rest ist Theatergeschichte.
Was blieb: Dass wir in deinen Aufführungen immer irgendwie zuhause waren. Deine Realität war unsere. Deine Texte waren unsere Identity Monologe. Du warst das Stadtteiltheater unseres Wirs. Dass es diesen Stadtteil so nicht mehr gibt, nicht mehr geben kann, wohl auch nicht mehr geben sollte, ließ deine Stücke immer deutlicher Versuche der Selbstvergewisserung werden. Immer noch so komisch, wie sonst kaum was im Theater, immer noch so schlau und irgendwie so wahr. (Der potenzierte V-Effekt, wenn Wuttke zitiert, wie man das Zitat eines Slapsticks zitiert und das am Ende natürlich super Slapstick ist.) War da ein Hauch von «früher war’s» besser in deinen letzten Stücken? Vielleicht war dieser Hauch nur im Publikum. Diese leise Melancholie jedenfalls ist nun alles, was uns bleibt. Denn so ist das in diesem Scheiß-Medium: Immer alles Gegenwart und danach nur noch Erinnerung.

Theater heute April 2024
Rubrik: Nachruf René Pollesch, Seite 37
von Florian Malzacher
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