Ganoven, Patriarchen, sanfte Seelen

Zum Tod von Hendrik Arnst

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Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin sitzt auf dem Klo, als sein Sohn Ganja den Fürsten Myschkin als neuen Untermieter anschleppt. Hendrik Arnst hat als General a. D.

und Oberhaupt einer moralisch und wirtschaftlich heruntergekommenen Familie, die Dostojewski als Gegenstück zu den wohlhabenden Jepantschins konstruiert, nur wenige Auftritte in Frank Castorfs «Idiot»-Verfilmung von 2006 – doch diese haben es in sich: Als Martin Wuttkes Myschkin an ihm vorbei geht, schreckt er auf, denn er erkennt ihn wieder, schließlich war er unsterblich in seine Mutter verliebt und hat sich deshalb mit seinem Vater duelliert. Voll aufrichtiger Wärme, geradezu innig erzählt Arnst davon, während er sich in aller Ruhe mit einem Blatt Zeitungspapier den Hintern abwischt, die Unterhose unterm Adidas-Sweater hochzieht und ausgiebig die Hände wäscht.

Auch Nebenfiguren wurden beim Volksbühnenschauspieler Hendrik Arnst zum Ereignis. Auf den ersten Blick hatte der gebürtige Thüringer geradezu klassisches Proletarierformat – gedrungen, bierbäuchig, mit großen, lang bewimperten Augen. Diesen Kontrast von kompakter Körperlichkeit und zarter Seele wusste er zielgenau einzusetzen; etwa, indem er das Sprechen mit sehr konkreten Beschäftigungen verband. Auch deshalb sah man ihm so gerne beim Leben und Spielen zu. Er konnte toben, brüllen und bellen wie im «Idiot», wo er sich später im furchterregenden Todeskampf eines Herzinfarkts wälzte. An anderer Stelle ließ er den brutalen Ganoven und Machtmenschen raushängen, manchmal auch den widerspenstigen Ostler. Aber er zeigte eben auch deren feinfühlige und verletzliche Seiten, mitunter mit beißender Ironie.

Zwei Castorf-Ären

Hendrik Arnsts Theaterlaufbahn war längere Zeit eng mit der von Frank Castorf verbunden. Von 1969 bis 1972 hatte er an der Ernst Busch Schule in Ostberlin Schauspiel studiert und spielte bereits im Ensemble des als «Strafkolonie» für linienuntreue Künstler geltenden Theaters Anklam, als der junge Frank Castorf – «so’n studierter Vogel, so’n blasses Jüngelchen» (Arnst über Castorf ) – dort 1981 Oberspielleiter wurde. In Robin Detjes Castorf-Biografie kann man nachlesen, dass Arnst im Laufe seiner Arbeit mit Castorf («Wenn jemand von der Probe in die Kantine kam, sah der irgendwie anders aus, leuchtete gewissermaßen») einen Ausreiseantrag stellte und die DDR verließ; er war an den Theatern in Aachen und Mannheim engagiert und konnte erst 1994 an die zwei Jahre zuvor von Castorf übernommene Volksbühne zurückkehren.

Dort feierte er seinen Einstand als Koffer schmeißender Hausdiener Eugen in Castorfs böse-lustiger Verschränkung des Schwanks «Pension Schöller» mit Heiner Müllers «Die Schlacht», der jedes «l» durch ein «n» ersetzte und diesen Sprachfehler formvollendet durchzog. Von da an fehlte er in kaum einer Castorf-Inszenierung zumal der glorreichen ersten 15 Jahre: Unter vielem anderen spielt er den Obernazi Schmidt-Lausitz in «Des Teufels General», einen punkigen Schottenrock-Junkie in «Trainspotting», einen russischen Gangster in Bulgakows «Meister und Margarita» sowie diverse Rollen in den immer stundenlängeren Dostojewksi-Adaptionen von «Dämonen» bis «Brüder Karamasow», wo er als Patriarch Karamasow und todsündiges Mordopfer seine Söhne kalt abblitzen ließ. Vereinzelt spielte er auch bei Gotscheff («Iwanow») und Pollesch («Stadt als Beute»), aber im Grund blieb er immer eine räudig-sentimentale Castorf-Figur.

Wie bei vielen Kolleg:innen wurden auch Arnsts Auftritte Anfang der 2010er Jahre zeitweise dünner, in den letzten Castorf-Spielzeiten kehrte er jedoch wieder zurück. Nach Ende dieser Ära sah man ihn öfter in Film und Fernsehen als auf der Bühne, neben den üblichen Krimireihen etwa in «Duell – Enemy at the Gates» von Jean-Jacques Annaud, «The Cat’s Meow» von Peter Bogdanovich (beide 2001) und «Der Hauptmann» von Robert Schwentke (2017). Bis heute kann man sich im Netz seinen Kommissar Konka in Wolfram Lotz’ Kunstkrimi «Das Massaker von Anröchte» (2021) vom Theater Oberhausen anschauen. Auch das eine perfekte Arnst-Rolle: Lakonisch, streng, aber nie ohne Witz stürmt sein Ermittler durch Ruhrgebietsstraßen, referiert Würstchen futternd über Wale und leert einsam Bierdosen im Hotelzimmer.

Eine seiner letzten Rollen an der Volksbühne spielte er in Julien Gosselins Verbeugung vor Goethe und Castorf gleichermaßen, «Deutsche Literatur I»; als bildungsbeflissener Portier und Kellner Mager im legendären «Hotel Elephant» seiner Geburtsstadt Weimar führt er Gäste in den Künstlerkult um lauter männliche Genies ein. Seine Klassikerverehrung triefte vor Ironie – und doch: Einen Teil dieser Kunstliebe dürfte Hendrik Arnst sehr real empfunden haben, hatte sie ihn doch zum Leuchten gebracht. Am 2. Januar ist er mit 73 Jahren in Berlin gestorben. 


Theater heute Februar 2024
Rubrik: Magazin, Seite 67
von Eva Behrendt

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