Im Perspektivwechsel
Zuletzt sahen wir uns vor sechs Jahren auf dem Markplatz von Altenburg in Thüringen. Bernhard Stengele war hier damals noch Schauspieldirektor der Städtischen Bühne im Verbund mit dem Theater in Gera. Er kam mit einer Baskenmütze und knallroten Schuhen, ein Künstler, der auffiel in dem kleinen Ort mit der riesigen Kirche. Und er kam, um seinen Abschied zu verkünden: Stengele gab auf. «Love it, change it, leave it», sagte er und musste zugeben, dass das mit der Liebe zu dem Theater sicher stimmte, das mit der Veränderung aber nicht so geklappt hatte wie erhofft.
Also ging er, schweren Herzens. Es war ihm unmöglich geworden, in einer Stadt weiterzuarbeiten, in der Anfeindungen von Rechtsaußen und Drohungen gegenüber ausländischen Ensemblemitgliedern an der Tagesordnung waren. In einer Inszenierung des «Hauptmann von Köpenick» trat ein schwarzer Schauspieler in der urpreußischen Titelrolle auf – das war zu viel. Jetzt sitze ich in Erfurt auf den Stufen des Umweltministeriums im stillen Regierungsviertel und warte wieder auf Bernhard Stengele. Eine schwarze Limousine fährt vor, aus dem Fond steigt er, immer noch in salopper, nicht mehr so greller Kleidung, trägt eine dicke Aktentasche in der Hand und kommt auf mich zu. Wir schütteln die Hände, und ich müsste jetzt «Guten Tag, Herr Minister» sagen, aber es kommt mir nicht so recht über die Lippen. Ich verschlucke den Titel, weil mir immer noch nicht einleuchten mag, wen ich da eigentlich vor mir habe: Stengele ist seit Februar 2023 Umweltminister in Thüringen und zudem stellvertretender Ministerpräsident. Später im Büro ist er unkonventionell wie bei unserer ersten Begegnung, nimmt sich viel Zeit für das Gespräch, bei dem man spürt, dass er es selbst etwas seltsam findet, wie rasch ihm der Ausstieg aus der Kunst und der Einstieg in die Politik gelang. Ich ringe mich jetzt doch zu dem offiziellen Titel durch (nur, um einmal zu hören, wie das klingt) und erinnere Stengele daran, was er seinerzeit als Theaterdirektor sagte.
Bernd Noack Herr Minister, Sie hatten 2012 in Thüringen angefangen Theater zu machen, um etwas zu verändern. «Wir rücken hier ganz an den rechten Rand», sagten Sie und wollten mit Ihrer künstlerischen Arbeit und einem bewusst international zusammengestellten Ensemble dagegenhalten, auch mit Stücken, die konkret auf die Situation in Altenburg und Gera eingingen. «Ich bin entschieden der Meinung, dass wir mit unserer politischen Arbeit dranbleiben müssen», war Ihr Credo in einem Interview mit «Theater heute» damals.
Bernhard Stengele Ich wollte auch, aber ich konnte an dem Ort damals wirklich nicht mehr bleiben, ohne zu merken, dass meine Kollegen aus Burkina Faso beispielsweise und aus der Türkei und Griechenland, die ich ins Ensemble aufgenommen hatte, in Ostthüringen nicht mehr sicher arbeiten können. Ich habe nie Theater gemacht, das aggressiv war, und es ist nicht gescheitert, weil wir unser Publikum nicht gehabt hätten. Im Gegenteil. Ich höre heute noch, wenn ich in Altenburg bin, dass die Zeiten sehr hoch gehalten werden, so haben wir es auch erlebt. Aber ich hatte keine Helden engagiert, sondern Künstler, die zunehmend angefeindet wurden, Probleme hatten bei der Wohnungssuche, keine Rückzugsräume mehr fanden. Das war der Punkt: Nicht das Theater, nicht das Publikum, sondern die Stadt wurde zu klein für das Projekt, und auf der Straße sind zu viele Aggressionen. Der Alltag war zu häufig zu feindselig.
Noack Sie sind gegangen, das Problem ist geblieben: Gerade wurde in Thüringen der erste Landrat der AfD gewählt. Und als Politiker der Grünen und in Regierungsverantwortung haben Sie jetzt wieder mit der Entwicklung zu tun. Anders und mehr als vorher?
Stengele Grundsätzlich ist die Rechte in Thüringen ein Riesenthema: Die AfD hatte in der letzten Umfrage 34 Prozent. Niemand weiß genau, wie man diesem Phänomen begegnen soll – aber auch in Baden-Württem -berg sind es ja schon 19 Prozent gewesen. Das, was mir einfällt, ist: mit so vielen Leuten zu reden wie möglich. Man muss ein Stück Vertrauen zurückgewinnen. Dieses einfache «Kein Platz für Nazis» funktioniert nicht. Das ist nicht falsch, aber in Thüringen ist da eben eine ständige Zunahme bei der AfD – nichts Sprunghaftes. Und das sind Menschen, die den etablierten Parteien nichts mehr zutrauen. Egal, wie wir uns auf den Kopf stellen: Wir haben bisher nicht das richtige Mittel – offensichtlich.
Noack Vertrauen hat auch etwas mit einleuchtender Politik zu tun. Vielleicht wird da auch bundesweit gerade eher Verwirrung gestiftet?
Stengele Sicher, nehmen Sie zum Beispiel die Energie-Diskussion. Ein in seinem ganzen Ablauf vergurktes Gebäudeenergiekonzept muss ich erst mühsam erklären, weil so viel Un- und Halbwahrheiten und Meinungsmache kursieren. Also fahre ich zu der alten Frau mit 82, die sagt: Ich habe ’ne kleine Rente, wenn ich am 1. Januar 2024 meine Heizung ersetzen muss, dann kann ich das nicht und dann enteignen sie mich … Ich habe ihr erklärt, dass sie ihre Heizung bis 2045 weiter laufen lassen kann. Ach, da sei sie ja schon tot, das erleichtere sie jetzt aber. Die hat also wirklich all den falschen Meldungen geglaubt und dachte, wir reißen ihr die Heizung raus.
Der Weg vom Theater, dem Spiel mit Fantasie und Verwandlung, in die harte Realität, wo Fakten zählen, war für Bernhard Stengele eher ein zufälliger. Nach Altenburg gönnte er sich erstmal eine Auszeit in seiner Heimat, dem Allgäu, arbeitete genrefremd im elterlichen Betrieb, dachte über ökologische Umstellung und Nachhaltigkeit nach. Aber da war doch noch etwas anderes: Mit dem Osten, wohin er nach seiner Theatertätigkeit in Würzburg sehr freiwillig und enthusiastisch gegangen war, «war ich noch nicht fertig». Über alte, gute thüringische Kontakte fasste er bei den thüringischen Grünen Fuß. Man kannte und schätzte sich seit der Theaterzeit, hatte gemeinsam gegen Fremdenfeindlichkeit Aktionen organisiert, sich gegenseitig unterstützt, wenn es darum ging, ein engagiertes Theaterprogramm auch gegen die Stadtspitze in Altenburg und Gera durchzusetzen. Und auf einmal ging alles ganz schnell. Stengele sollte grüner Politiker werden, meinte die Partei.
Stengele Ich war enorm naiv, was grüne Parteipolitik in Thüringen anbelangt. Ich dachte, da sind so zehn Leute, die sich da bewerben – aber die waren froh, dass das überhaupt jemand macht. Ich habe anknüpfend an meine Erfahrungen als Theatermensch einen ziemlich originellen Wahlkampf gemacht, hatte viel Besuch von grüner Prominenz – und habe zwar ein desaströses Ergebnis erzielt, das jedoch hundert Prozent besser war als das davor. So wurde ich auf Landesebene bekannter und angefragt, ob ich mir vorstellen könne, mich um den Landesvorsitz zu bewerben. Ich hatte keine anderen großen Pläne zu dem Zeitpunkt. Politik war für mich allerdings eine ganz fremde Welt.
Noack Aber ganz ohne Sendungsbewusstsein ging es ja wohl auch nicht?
Stengele Ich habe das wirklich gewollt, vielleicht nur für zwei Jahre, man würde sehen, ich war aber sehr neugierig. Inhaltlich war mir das Ganze ernst. Es gibt die Fremdenfeindlichkeit, die ich ja selber mit meinem Theater schmerzhaft erfahren habe, und die überragende Herausforderung der Klimakrise – das habe ich schon vor 20 Jahren gesehen. Eine meiner ersten internationalen Produktionen in Westafrika, wohin ich viele künstlerische Kontakte knüpfen konnte, hat davon gehandelt. Es hat mich wirklich umgetrieben. Trotzdem war es ein kurioser Schritt. Ich habe beim Parteitag eine Rede gehalten, wurde als Landesvorsitzender gewählt, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Dann wurde dieser FDP-Mann mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt, dann kam Corona, dann sollten Neuwahlen stattfinden, die fielen aus. Wir hatten aber schon einen Wahlkampf vorbereitet – ich machte also weiter. Im Dezember 2022 trat hier die Umweltministerin zurück, und dann lief es auf mich hinaus: Ich sollte die Nachfolge antreten. Es war wirklich ein unwahrscheinlicher Fall, aber er trat ein.
Noack Sie haben mal gesagt, dass Sie sich nie um Ihre Zukunft Sorgen gemacht haben, dass Sie immer irgendwo hineingestolpert sind, wo Sie sich wohl fühlten und engagieren konnten. Aber der umgekehrte Weg, aus einem Beruf wie dem Theatermacher hinauszustraucheln, weil man mit den widrigen gesellschaftlichen Umständen nicht zurechtkommt, muss doch auch weh tun …
Stengele Der Abschied vom Theater war schon sehr, sehr schwer. Ich hätte auch gerne woanders weiter gemacht. Ich wollte weiter international arbeiten, im Ensemble genauso viel Frauen wie Männer haben – das waren alles Ideen, die ich schon lange hatte und … die ich nicht unterbringen konnte.
In der Hochzeit der Ereignisse in Altenburg ging auch die Politik auf Distanz zum Theatermacher und sorgte sich um das gute Image der Stadt. Der SPD-Oberbürgermeister Michael Wolf schrieb damals: «Ich begrüße es, dass sich unser Theater mit seiner Internationalität in provozierender, aufrüttelnder und äußerst kreativer Art (…) einbringt. Dies ist der Anspruch, den wir fördern und der in besonderem Maße, neben dem Unterhaltungswert, der Bildungsaufgabe der Kultur entspricht. Dafür braucht die Kultur ihre Unabhängigkeit, die in unserer Gesellschaft auf dem Boden des Grundgesetzes von der Politik jederzeit zu wahren ist. Es ist aber nicht richtig und ein Spiel mit dem Feuer, wenn aus Gründen der medialen Aufmerksamkeit der scheidende Schauspieldirektor Bernhard Stengele wiederholt unsere Stadt mit rassistischen Denkweisen in der Bevölkerung in Verbindung bringt. Durch die Art und Weise, wie er dies tut, wird unserer Stadt ein erheblicher Imageschaden zugefügt. Dies relativiert seine hervorragenden schauspielerischen Inszenierungen, die ich sehr begrüße und unterstütze.»
Noack Kommt einem da der Gedanke, gescheitert zu sein?
Stengele Nein, gescheitert ist es nicht, unser Altenburger Projekt. Wir haben zu einem Zeitpunkt aufgehört, als es künstlerisch und auch bei der Bevölkerung funktionierte. Es war nicht nur der Skandal, also etwa ein schwarzer Schauspieler als Hauptmann von Köpenick, auch die Produktion mit Israel hat gezeigt, dass man in der Provinz wirklich ein Theater machen kann, das einen ganz hohen Anspruch hat und ungewöhnliche Formen bietet. Ich habe ja in Altenburg viel von dem gezeigt, was man inhaltlich engagiertes politisches Theater nennt, doch die künstlerische Sensibilität und die Liebe zu dem, was ich auf der Bühne inszeniere, und zu denen, die es sehen sollten, hat immer überwogen. Dabei habe ich natürlich mitbekommen: Der Theaterbetrieb ist ungerecht, die Tarifverträge sind furchtbar, es gibt ganz viele Sachen, die ganz falsch sind. Ich habe das aber nie in meine Theaterarbeit einfließen lassen oder versucht, einen politischen oder gewerkschaftlichen Streit auf der Bühne auszufechten. Das hätte ich als Künstler nicht gekonnt. Theater darf da nicht deklamatorisch sein und die Kunst als Stellvertreter missbrauchen. Wenn ich Realpolitik machen, Reformen und Verbesserungen durchsetzen will, dann muss ich auch in die Politik gehen.
Noack Sie kennen jetzt beide Seiten: Ist Theater sinnlicher als Politik?
Stengele Na klar. Die Empfindsamkeit, das Sich-verwirren-lassen, das Nicht-wissen-wie-es-geht, das finde ich als Regisseur wichtig – das hat alles in der Politik keinen Platz. Da trittst du auf und musst klar wissen, was du sagst. Die Angriffe, die man in der Politik erlebt, sind ungleich härter und unreflektierter, und man muss sich wirklich wappnen. Wenn ich in so einen Tag gehe, dann muss ich morgens denken: Zieh’ deinen Panzer an, weil es kann heute echt schwer werden. Das hätte ich als Künstler nicht durchgehalten. Es ist schwer, in der Politik klug und gleichzeitig verletzbar zu arbeiten. Mittlerweile weiß ich: Das ist meine Rolle tagsüber, und ich kann und muss versuchen, abends den Panzer abzulegen. Aber so hätte ich nicht Kunst machen können.
Noack Politiker stehen im Rampenlicht wie Schauspieler. Und wenn man sie mittlerweile vornehmlich in Talkshows wahrnimmt, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie da auch mehr eine bestimmte Rolle spielen, mehr wirksame Show machen, als dass sie innerlich überzeugt eine Meinung, eine Ideologie, ein Programm vertreten.
Stengele Was mir hilft: Das Spiel ist mir bewusst. Sie werden wenige Politiker finden, die zugeben, dass es auch ein Spiel mit Rollen und Drehbuch ist, aber so ist es. Das ist nicht gut oder schlecht, es ist einfach so: Den anderen grundsätzlich ins Unrecht setzen, selbst immer rechthaben. Habeck versucht es ja manchmal anders. Das ist ja eigentlich ein Witz, dass Leute aus der anderen Partei immer Unrecht haben sollen. Ich habe jetzt alle Politiker, auch die, die auf Bundesebene unterwegs sind, kennengelernt, Olaf Scholz noch nicht … Die schlimmsten sind die, die sich dieses Spiels nicht bewusst sind, die keine Distanz zu sich haben, dann wird es ganz unangenehm und herb. Die theatralischen Elemente in der Politik sind sehr groß, bei jeder Plenardebatte, die häufig nichts anderes als Inszenierung ist, auch wenn die Politiker es nicht so bezeichnen würden. Was mir hilft, und das ist vielleicht eher meine Erfahrung als Regisseur: Ich bin in der Lage, Perspektivwechsel vorzunehmen. Nicht der eine Blickwinkel ist der einzig mögliche, sondern als Regisseur muss ich auch verstehen können, dass die Schauspielerin auf einmal sagt, sie sieht das anders und dass sie dafür gute Gründe hat.
Noack Ihre Amtszeit als Minister geht erst einmal bis zur Wahl im nächsten Jahr. Von Politikern sagt man, sie kleben an ihrem Sessel, also an der Macht. Besteht die Gefahr bei Ihnen dann auch? Haben Sie Blut geleckt?
Stengele Vieles ist ganz beeindruckend. Die Leute hören mir zu – mit der Erwartung, dass es wichtig ist, was ich sage. Es ist natürlich wichtig, aber es war auch schon lange vor mir wichtig und nicht erst durch mein Amt. Aber meine öffentliche Bedeutung endet mit dem Tag, an dem ich nicht mehr Minister bin. Ich bin mir sehr bewusst, dass das alles endlich ist. Der Abschied vom Theater war ein so schwerer, weil das ganze Metier so in mir war. Mir ist aber die Vorläufigkeit meines jetzigen Amtes ganz klar, und ich klebe nicht daran. Vielleicht ist es ein Gastspiel, aber das will ich nutzen.
Theater heute Oktober 2023
Rubrik: Akteure, Seite 49
von Bernd Noack
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