Die Kritiker*innen-Umfrage
Triumphal endet die fünfjährige Intendanz von Matthias Lilienthal: Zum zweiten Mal in Folge sind die Münchner Kammerspiele mit großer Mehrheit das Theater des Jahres. 13 Kritiker*innen fanden, dass der anfangs noch holprige Versuch, ein Stadttheater mit einem internationalen Produktionshaus zu kreuzen, immer reichere Früchte getragen hat. Auf Platz zwei liegt mit immerhin 6 Voten Johan Simons’ Schauspiel Bochum.
Im knappen Rennen um die Inszenierung des Jahres siegt Florentina Holzingers internationale Koproduktion «TANZ» mit 7 Stimmen, dicht gefolgt von Leonie Böhms frauensolidarischer Scham-Austreibung «Räuberinnen» (6 Stimmen) an den Münchner Kammerspielen. Auf Platz drei landet Alexander Giesches Visual Poem «Der Mensch erscheint im Holozän» nach Max Frisch vom Schauspielhaus Zürich (5 Stimmen).
Zum zweiten Mal in Folge, darüber hinaus aber insgesamt schon zum vierten Mal (nach 2010, 2013, 2019) ist Sandra Hüller die Schauspielerin des Jahres! Ihr forschender Hamlet in Johan Simons’ Bochumer Inszenierung begeisterte 11 Kritiker*innen. Für ihr kühles Solo-Sprechglanzstück von Wolfram Lotz’ «Die Politiker» (als Teil von «LEAR/Die Politiker» am Deutschen Theater Berlin) sammelte die zweitplatzierte Cordelia Wege 7 Voten. Fabian Hinrichs, der in René Polleschs «Glaube an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt» Bühne und Zuschauerreihen des Berliner Friedrichstadtpalastes durchstreift, ist mit 6 Stimmen Schauspieler des Jahres und sticht damit knapp Thomas Schmauser für seinen Lear (Melle nach Shakespeare) an den Münchner Kammerspielen (5 Voten) und Jens Harzer als Bochumer Iwanow (ebenfalls 5 Voten).
Überhaupt, Hamlet! Das Bühnenbild des Jahres malte teilweise ganz buchstäblich die bildende Künstlerin Julia Oschatz für die «Hamlet»-Lesart von Christian Weise am Berliner Maxim Gorki Theater (4 Stimmen), knapp vor Susanne Kennedys und Martin Selgs «Ultraworld»-Design an der Berliner Volksbühne (3 Stimmen). Kostümbildnerin des Jahres ist einmal mehr Victoria Behr (mit 6 Stimmen für Herbert Fritschs «Amphitryon»-Version an der Berliner Schaubühne).
Zum Stück des Jahres wurde mit klarer Mehrheit Ewald Palmetshofers Mittelstandsrequiem «Die Verlorenen» im Münchner Residenztheater gewählt, das 8 Kritiker*innen überzeugte. Auf Platz zwei folgen gleichauf mit je 4 Stimmen Sivan Ben Yishais feministische Beziehungsanalyse «LIEBE/Eine argumentative Übung» (Nationaltheater Mannheim) und Falk Richters antitoxischer Männerabend «In My Room» (Maxim Gorki Theater Berlin).
Und die Newcomer? Für ihre Befreiung der Bochumer Ophelia aus dem Opferklischee wird Gina Haller mit 12 Stimmen (plus 3 Stimmen in der Hauptkategorie) Nachwuchsschauspielerin des Jahres. Mit je fünf Stimmen folgen auf Platz zwei Svenja Liesau als derb berlinernder Dänenprinz im Berliner Maxim Gorki Theater und Julia Windischbauers Staubsauger Deme in Toshiki Okadas «The Vacuum Cleaner» (Münchner Kammerspiele). 4 Voten machen Johannes Nussbaum für seine Rolle als Rumtreiber Kevin in «Die Verlorenen» am Münchner Residenztheater zum Nachwuchsschauspieler des Jahres. Mit starken 8 Stimmen wird Caren Jeß Nachwuchsautorin des Jahres für «Bookpink».
Wir gratulieren – und finden, das sind viele schöne und gute Gründe zu feiern! Wäre da nicht das flächendeckende Ärgernis des Jahres, das zugleich sehr viel mehr als ein Ärgernis ist, wie viele der 21 Kritiker*innen bemerken, die in dieser Rubrik das Coronavirus sowie seine wirtschaftlichen, kulturpolitischen und künstlerischen Folgen auch für das Theater erwähnen. Selbst die Debatte um Achille Mbembe und die Absage der Ruhrtriennale nehmen sich daneben wie Strohfeuer aus. Die Hütte brennt – aus vielen Gründen.

Theater heute Jahrbuch 2020
Rubrik: Höhepunkte des Jahres, Seite 100
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