Zwei Leben mit Brecht
Ich habe die Szene noch vor Augen: Ein Kneipentisch im Freien, ein sonniger Berliner Vormittag, Carl Weber mit einer Gruppe von Studierenden, erzählend, erläuternd, mit dem jugendlichen Feuer, das er auch im hohen Alter noch ausstrahlte. Ich hatte ihn gebeten, bei Gelegenheit des Berliner Theatertreffens über Brecht und sein Theater zu sprechen. Ganze Seminare konnte sich ersparen, wer ihm zuhörte, die markante Stimme des Dortmunders mit dem leichten Anflug des breiten Westfälisch passte gut zu seiner stets auf das Theaterpraktische (und Lebenspraktische) gerichteten Denkweise.
Sein Humor, seine eigene Begeisterung rief bei seinen Studenten jenes Leuchten in den Augen hervor, das vom übergesprungenen Funken zeugte. Einer seiner berühmtesten, Tony Kushner, hat immer wieder seine Dankbarkeit für die wesentlichen Anregungen zum Ausdruck gebracht, die er in Stanford von Weber empfangen hat.
Schon die Anfänge des Theaterspielens haben bei ihm etwas Brechtisches. Als junger Soldat an der Front, unweit von Calais, packte er die erste sich bietende Gelegenheit beim Schopf, sich englischen Truppen mit hoch erhobenen Händen zu ergeben – und spielte alsbald im Kriegsgefangenenlager mit einigen
anderen Gefangenen – darunter Klaus Kinski – Schillers «Räuber». Das war an Weihnachten, und Weihnachten, am 25. Dezember 2016, ist Carl Weber in einem Pflegeheim in Los Altos nahe seiner Wirkungsstätte, der Stanford Universität, gestorben. Die Nachricht von seinem Tod löste großen Schmerz bei seinen Freunden in aller Welt aus, die seine Großzügigkeit, seinen Humor und seinen Scharfsinn vermissen werden. Der Emeritus ist 91 Jahre alt geworden.
«Mutter Courage»
Nach dem Krieg begann Weber als Schauspieler am Theater Heidelberg, gehörte zu den Gründern des Zimmertheaters Heidelberg und ging 1950 nach Berlin an das Theater der Freundschaft. 1952 widerfuhr ihm dann das Erlebnis, das sein weiteres Leben bestimmen sollte. Diese Zäsur war die inzwischen legendäre Aufführung von «Mutter Courage» durch das Berliner Ensemble. Noch Jahrzehnte später nannte er sie das beeindruckendste Theater, das er je gesehen habe. Weber wusste sofort: Mit Brecht wollte er arbeiten, er bewarb sich, wurde genommen und blieb von 1952 bis 1961 dem Berliner Ensemble als Darsteller in kleineren Rollen, als Dramaturg und Regieassistent Brechts bis zu dessen Tod 1956 verbunden.
Wenn «Charlie» Weber von Brecht sprach, dann so wie von einem Freund, doch stets mit dem Abstand des Respekts, den große Bewunderung mit sich bringt. Wer Brecht für dogmatisch verbohrt und ideologisch hielt, konnte sich bei ihm eines Besseren belehren lassen allein schon durch die Schilderung der fröhlichen, entspannten und vorurteilslos experimentierfreudigen Probenatmosphäre.
Besonders betonte Weber Brechts Privilegierung des Visuellen im Theater. «Wenn eine Glaswand die Bühne vom Zuschauerraum trennte, müsste das Publikum den Vorgang noch verstehen können», zitierte er den Meister gern. Weber übernahm diese Grundhaltung für den eigenen Unterricht: Das Erste, was er den Studenten beizubringen suchte, war die Schaffung einer visuellen Erzählung durch die Konfiguration der Gesten und die Bewegungen der Personen und Gegenstände. Plastisch und drastisch war seine Erläuterung des Brechtschauspielers, für den die Psychologie kaum von Bedeutung war. Brecht, so Weber, ging davon aus, dass das Publikum keine Ahnung hat, was der Schauspieler denkt. Der Schauspieler aber denkt nicht nur mit dem Kopf, sondern mit seinem Körper. Auch Brechts schöne Definition «Talent ist Interesse» habe ich zuerst von Carl Weber kolportiert gehört.
Nach Brechts Tod 1956 übernahm er selbst regelmäßig Regiearbeiten am Berliner Ensemble, inszenierte z.B. mit Peter Palitzsch zusammen «Der Tag des großen Gelehrten Wu». Als am 13. August 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde, befand er sich in Lübeck in der Arbeit an Brechts «Pauken und Trompeten» und blieb im Westen. Ein Brief vom Herbst 1960 an Helene Weigel belegt aber schon seinen Wunsch, den Vertrag am BE nicht zu verlängern – er gibt leider keinen Hinweis auf die konkreten Gründe.
Der Botschafter
Danach begann das zweite Leben des Carl Weber als freier Regisseur und bald auch als Theaterlehrer. Zwischen 1962 und 1966 führt er Regie an zahlreichen Theatern in Deutschland, Skandinavien und den USA, z.B. am San Francisco Actor’s Workshop, am norwegischen Nationaltheater Oslo und an der Berliner Schaubühne. 1966 wurde er als Schauspiel- und Regiedozent an die neu gegründete School of the Arts der New York University berufen, und 1984 an die Stanford Universität. Am meisten machte er wohl von sich reden durch die Inszenierung von Peter Handkes «Kaspar», für die er 1963 den Oby-Award erhielt, und durch den Publikumserfolg seiner «Arturo Ui»-Inszenierung in Washington, die in Zeiten der Watergate-Affäre als Kommentar auf die Kriminalisierung der Politik gelesen wurde.
Zu seiner beeindruckenden Lebensleistung als Regisseur, Wissenschaftler und Lehrer muss man noch seinen unermüdlichen Einsatz für die Rezeption «schwieriger» Autoren wie Brecht und Peter Handke in den USA hinzuzählen. Und vor allem seine Arbeit als Übersetzer – zumal der Texte Heiner Müllers, dessen Stimme er in der amerikanischen Szene geworden ist.
Er war ein Freund. Er war ein Geschenk. Für die Freunde, für das Theater, für das Wissen vom Theater. Für das Gedächtnis des Theaters.

Theater heute April 2017
Rubrik: Nachruf, Seite 71
von Hans-Thies Lehmann
Hans Fallada wusste, was er tat, als er 1934 seinen Roman «Wer einmal aus dem Blechnapf frisst» schrieb: Sechs Jahre vorher war er selbst aus dem Gefängnis entlassen worden, nach zweieinhalb Jahren Haft wegen Betrug und Unterschlagung. Sein Alter Ego Willi Kufalt lässt er fünf Jahre einsitzen und (anders als Fallada selbst, der zum Bestseller-Autor wurde, bevor er mit 53 seiner...
Die Zukunft findet nicht statt. Jedenfalls nicht im Dresdner Elbtal. Zu dieser interessanten
Diagnose kommen gleich zwei Uraufführungen des dortigen Staatsschauspiels. Glaubt man, zunächst, Konstantin Küsperts Prognose vom «ende der menschheit», die Anton Kurt Krause dort im Kleinen Haus (mit einem vergleichsweise munteren Schauspielertrio) urinszeniert hat, wird schon bald der letzte...
Ist Multikulturalismus lediglich eine Ideologie, wie die AfD im letzten Sommer behauptete? Eine ungefüllt herumgeisternde Idee, ein Bündel aus Theorien und Normen, das die Realität zu formen sucht – und nicht umgekehrt? An diesem Tag im Mannheimer Ratssaal sieht es anders aus. Da zeichnen zig Menschen aus Guatemala, Afghanistan, Finnland, Eritrea, Indonesien, Ägypten, Kamerun, Albanien,...