Franz Wille: Die Bar gewinnt
Wer auf den verschlungenen Treppenhaus-Wegen ins Atrium des Züricher Schiffbaus, der ersten Station von Frank Castorfs «Amerika»-Reise, achtlos an der Schüssel mit kostenlosen Ohrstöpseln vorbeigegangen ist, dürfte seinen Hochmut bald bereut haben. Oben angekommen, in einem riesigen, von drei Balkonetagen umrahmten Innenhof, wartet nicht nur das großzügig aufgebaute Oberdeck eines Transatlantik-Liners, aus dessen zweistöckigem Schornstein es bedrohlich qualmt.
Sondern auch das serbische Bojan Kristik Orkestar aus sieben stämmigen Herren mit imposanten Zahnlücken und Backen wie Luftballons, die mit ihren Pauken und Trompeten einen zwar durchaus restmelodischen, dabei aber derart infernalischen Lärm veranstalten, dass es die Bewohner der Luxuspenthäuser auf dem Schiffbau-Dach gründlich aus den Designer-Sofas gehoben haben dürfte.
Erschwerend kommt hinzu, dass die robuste Zigeuner-Combo schnell die Angewohnheit entwickelt, aus Leibeskräften schreiende Schauspieler, die in rumpeligen Mehrfach–besetzungen durchs erste «Heizer»-Kapitel schlingern, auf dem fußballfeldgroßen Oberdeck aufzuspüren, um sie unter vollem Gebläse von den Planken zu pusten. Sogar körperlich widerstandsfähige, ...
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Theater heute Juni 2012
Rubrik: Aufführungen, Seite 11
von Franz Wille
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