Zurück zur Unschuld
Es ist ja eigentlich nicht die Zeit der Chöre. Das Marschieren im Gleichschritt, das gemeinsame Intonieren, das Skandieren der Parolen sind uns fremd geworden. Pegida-Trupps auf Marktplätzen oder Ultras im Fußballstadion haben eigentlich den Touch des Fossilen. Das Gros der politischen Demonstrationen ist ein heterogenes Get-together von pragmatisch gestimmten Menschen, die sich für partikulare Anliegen lose zusammenfinden. Nicht für kollektive Identitätsbehauptungen.
René Pollesch hat das in «Streets of Berladelphia» luzide ausgeführt: Wir agieren in Netzwerken, nicht in Kollektiven, in der Crowd, nicht im Chor. Einerseits.
Andererseits zeigt sich das chorische Sprechen gerade im Theater als ziemlich persistent. Denn auch der emphatische Begriff des Individuums, als Gegenpol zum Chorischen, will so recht nicht in eine Gegenwart passen, in der sich der Mensch zunehmend als fremdbestimmt empfindet, als Anhängsel der Märkte, als Datensatzgeber, als Träger immer schon vorgeprägter Diskurse. Hier setzt der Chor als Mittel an: Er ist von Elfriede Jelinek bis Felicia Zeller die vorzüglichste Form, einen Text von der Person abzulösen und ihn in einer quasi objektiven Eigenständigkeit ins ...
Weiterlesen mit dem digitalen Monats-Abo
Sie sind bereits Abonnent von Theater heute? Loggen Sie sich hier ein
- Alle Theater-heute-Artikel online lesen
- Zugang zur Theater-heute-App und zum ePaper
- Lesegenuss auf allen Endgeräten
- Zugang zum Onlinearchiv von Theater heute
Sie können alle Vorteile des Abos
sofort nutzen
Theater heute Mai 2017
Rubrik: Aufführungen, Seite 49
von Christian Rakow
Wer schon einmal in einer Jury saß, der weiß, dass es das klare, unschuldige, ausschließlich auf Qualitätskriterien beruhende Urteil nicht gibt. Der weiß, dass ein Urteil immer auch heißt, gut eingespielte Kriterien zu hinterfragen: Ist der eigene Kompass noch korrekt? Steht einem Geschmäcklerisches im Weg, persönliche Vorlieben, Erfahrungen? Ist man womöglich...
Wird ein Mensch als wilder Hund bezeichnet, ist das nicht wörtlich zu verstehen und meist eher respektvoll gemeint. Jene Menschen aber, die sich buchstäblich wie Hunde verhalten – Pfötchen geben, an den Baum pinkeln und so –, werden für verrückt erklärt. Nicht in Erwägung gezogen wird, dass es sich tatsächlich um Hunde in Menschengestalt handeln könnte. «Hundsch»...
Der Wunsch zu sterben kann aus einer kaputten Liebe herrühren oder aus verlorener Hoffnung auf Liebe, nur selten kommt er der Liebe und der Hoffnung zuvor, wie bei den fünf Teenager-Töchtern einer puritanischen Bilderbuchfamilie in Jeffrey Eugenides’ tiefschwarzem Romandebüt aus dem Jahr 1993 «Die Selbstmord-Schwestern», die allesamt in der Blüte ihrer Pubertät aus...