Störfaktor, Katalysator, Medium

Die Performerin Kate Strong kann tanzen, schauspielen, erfinden, denken

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Kate Strong ist am 22. Juni noch einmal am Berliner Gorki Theater in «Ödipus und Antigone» zu sehen. www.gorki.de

Sie ist die Erste, die auftritt. Sich auf eine Bank setzt, im weißen Kleid, ein imposantes Stück rohes Fleisch im Schoß. Emporstarrt ins Scheinwerferlicht, bis ihr die Augen tränen. Reglos. Marie (Linda Pöppel) nimmt zu ihrer Rechten Platz, Robert (Max Mayer) zu ihrer Linken, und der Beziehungszoff nimmt seinen Lauf. Dazwischen: Kate Strong als reglose Barriere, als Mittlerin und Pufferzone.

Bis plötzlich Leben in die Starre fährt, sie erst einen Satz gen Marie bellt, kurz darauf in deren Lachen einfällt und noch minutenlang im Dunkeln nachkichert, wenn die beiden Liebenden schon gegangen sind.

In Ersan Mondtags Inszenierung von «Der alte Affe Angst» am Schauspiel Frankfurt, an Oskar Roehlers Film über eine schmerzhafte Trennung entlangerzählt, wechselt Kate Strong so quecksilbrig zwischen den Ebenen, dass es einem Atem und Sprache raubt. Weil Mondtag stets die Antike im Gepäck hat, spielt sie sowohl den Totengott Thanatos als auch Roberts krebskranken Vater. Dieser befragt erst mit samtener Stimme seinen verloren geglaubten Sohn nach seinem Leben und Sein, um dann unvermittelt in Tränen auszubrechen, bis in die Knochen bestürzt über das eigene Schicksal. Es ist elektrisierend zu verfolgen, wie Kate Strong von einem Elementarzustand in den anderen übergeht, wie sie dabei psy­chologische Brücken überspringt, um ungefiltert den blanken Zustand, das blanke Sein auszuspielen. Denn Kate Strong ist eine, die das Spiel unterbricht. Die das romantische Melodram der Enttäuschungen und Versehrungen aussetzt, um es noch mehr anzuheizen. Sie ist Störfaktor, Katalysator, Medium.

Erste Prägungen bei Forsythe und Castorf

«Charakterbauen interessiert mich nicht», sagt sie. «Die Besten wandeln sich nicht. Sie sind immer sie selbst.» Wer sie selbst dann sei? Was sie auf der Bühne zeige? «Ich glaube, ich bin verrückt genug, dass man einen in­stabilen Menschen sieht.» Wir haben uns in der Kantine des Schauspiels Frankfurt getroffen, doch weil es ihr unangenehm wäre, unter den Augen der Kolleg*innen mit mir zu sprechen, gehen wir in das zu dieser Tageszeit ausgestorbene Foyer, mit Blick auf glitzernde Bankentürme und vor­übergleitende Straßenbahnen. Kate Strong gibt nur sehr selten Interviews, zu diesem haben sie Freunde überredet. «Ich bin nicht so der Redner, nicht so das Plappermaul.» Sie selbst bezeichnet sich als schüchtern, aber vielleicht trifft es Bescheidenheit eher: Sie wirkt erfrischend uneitel in diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten, der Theater heißt.

Und so weiß man, obgleich sie seit 34 Jahren auf deutschen Bühnen steht, sehr wenig über diese Frau. Die als Tänzerin beim Ballett Frankfurt von William Forsythe von Anfang an dabei war und später als Schauspielerin wichtige Jahre von Frank Castorf an der Volksbühne mitprägte, die also viele Jahre mit zwei höchst unterschiedlichen Künstlerpersönlichkeiten verbrachte, die ihre jeweilige Kunst über ihre Grenzen hinaustrieben – und die die Ästhetik der zeitgenössischen Tanz- und Theaterszene noch immer beeinflussen.

Seit 2002 arbeitet Kate Strong freiberuflich, heute vagabundiert sie als Grenzgängerin zwischen den Theaterwelten: Sie hat zahlreiche Insze­nierungen mit den Regisseurinnen Karin Henkel und Karin Beier gemacht, seit 2014 arbeitet sie regelmäßig mit dem jungen Regisseur Ersan Mondtag zusammen. Sie tritt in Neueinstudierungen von Forsythes’ Choreografien auf, beispielsweise beim Bayerischen Staatsballett. Und sie arbeitet häufig mit dem Musiker und Regisseur Mathieu Bauer zusammen, am Nouveau Théâtre de Montreuil in Paris, aber auch mit der Musikerin Cathy Milliken und mit der Choreografin Amanda Miller.

Strong wurde 1961 in London geboren. Als Mädchen tanzte sie gern, sie hatte viel Energie und auch Talent, denn ihre Ballettlehrerin schlug sie für eine Ausbildung an der renommierten Royal Ballet School vor. Mit 19 Jahren kam sie nach Zürich, zur Balanchine Satellite Company, 1983 ging es dann weiter ans Ballett Frankfurt – wenige Monate bevor der junge, noch recht unbekannte Choreograf William Forsythe dessen künstlerische Leitung übernahm. «Das war schon Punk, von dem konservativen Ku-Klux-Klan in London in die Schokoladen-Geld-Schweiz und dann ins Forsythe-Madland», erzählt Strong lachend. Ohnehin lacht sie viel, laut und gern. Und sie ist eine tolle Gesprächspartnerin, herzlich, offen und direkt, aber durchaus energisch. Denn auch wenn ihre beeindruckende Künstlerinnen-Biografie dazu einlädt, Lebensstationen abzu­klappern, stellt sie schnell klar: «Ich habe keine Geduld für diese blöde chronologische Lebenserzählung!» Und so streift das Gespräch kreuz und quer.

Die Arbeit mit William Forsythe beschreibt sie als großen Glücksfall für jede Tänzerin, denn er begann in Frankfurt, die starke Hierarchie des klassischen Ballettensembles abzubauen. Und er zerlegte auch das Ballett selbst in seine Bestandteile, um dessen Struktur offen- und freizu­legen und lustvoll, spielerisch, fordernd seine Möglichkeiten und ausgeschlossenen Alternativen zu erforschen. «Was er uns am meisten geschenkt hat, war die Autonomie. Letztendlich hat er uns seinen Job beigebracht.» Die Tänzer*innen wurden zu Choreograf*innen, die frei denken und experimentieren durften mit dem Ziel, die Grenzen des Tanz- und Denkbaren zu verschieben: «Es ging darum, genau den Punkt zu finden, an dem es tatsächlich nicht mehr weiterging.» Als aber immer mehr Tänzer aus dem Umfeld des Ballett Frankfurt an Aids starben und schließlich 1994 Forsythes’ erste Frau Tracy-Kai Maier-Forsythe an Krebs, hielt Kate Strong es nicht mehr aus.

Hart im Nehmen
 
Sie ging als Tänzerin in Johann Kresniks Ensemble an der Berliner Volksbühne. Ein harter Wechsel war das, vom feinsinnigen Dekonstrukteur des klassischen Balletts zum Tanztheater-Berserker. Über den Strong nicht viele Worte verlieren möchte: «Ich habe Kresnik erlaubt, meine Miete zu zahlen.» Später bat sie Frank Castorf, in sein Schauspielensemble aufgenommen zu werden. «Für mich war es wunderschön, dass ich ein letztes Schnuppern von der DDR hatte», erzählt Kate Strong. «Innerhalb von zwei Wochen hatte ich das Gefühl, dass ich eine Familie hatte, mit Ersatzmuttis, Großmuttis und Schwestern. Jeder Techniker kannte meinen Namen. Und ich habe Frank sehr gern gehabt, obwohl er ein Tyrann ist. Aber er macht das auf intelligente Art und Weise. Und er schätzt Leute, die darüber hinwegsehen können, die nicht beleidigt sind, die im positi­ven Sinne hart im Nehmen sind.»

Hart im Nehmen ist Kate Strong sicher – sie bezeichnet sich selbst als Kämpferin, die, wenn jemand behaupte, sie könne etwas nicht, es demjenigen erst recht beweisen wolle. Ihr Spiel hat etwas zutiefst Ambivalentes: In einem Moment ist sie durchlässig, nahbar, berührend, im nächsten aufbrausend, wild und unberechenbar, dann wieder von heiterem, lebenssatten Übermut – so als wolle sie in einem Atemzug alle Potenziale des Menschseins ausschöpfen.

In Ersan Mondtags «Tyrannis« (2015) beispielsweise gibt sie eine strenge, maximal aufrechte Mutter, die ihren (Familien-)Laden fest im Griff hat. Im Schürzenkittel trappelt sie entschieden durch die eigenen vier Wände, streckt ihren prüfenden Blick mit geradem Rücken Schlüssel­löchern entgegen oder dem Braten im Ofen. Doch in einem unbeobachteten Moment bricht sich ein flinker, graziler Tanz im Flur Bahn. Die Inszenierung vom Staatstheater Kassel wurde 2016 zum Berliner Theatertreffen eingeladen und sorgte dort für erregte Diskussionen mit ihrer hochartifiziellen Verschränkung von Video, Bildender Kunst und Theater, mit ihrer schrägen Mischung aus Horror-B-Movie und sich langsam entfaltendem Familiendrama. Strong arbeitet gern mit Regisseur*innen zusammen, die auch das Theater selbst befragen und auf spielerische Weise ästhetische Reflexion betreiben.

Eine langjährige Zusammenarbeit verbindet sie mit der Regisseurin Karin Henkel. «Ich schätze Karin, denn sie hat einen rattenscharfen Humor», erzählt Strong. «Und sie ist sehr akribisch. Sie lässt nicht nach, bis es gut ist, sie ist wie ein Hund auf dem Schweinekotelett. Es ist total schön.» 1999 spielte Kate Strong in Henkels «Woyzeck» am Schauspielhaus Zürich die Marie: Als Wirbelwind im schwarzen Flamencokleid, als leicht aufbrausendes Springteufelchen, das erst mit ihrem Kind gutgelaunt Pferdchen spielt, um es dann zum Schlafen singend, aber herzhaft in eine Mülltonne zu stopfen: «Augen zu! Noch fester!» Da ist sie ebenso verführerisch wie zärtlich, furchteinflößend wie komisch. Und in Henkels hochgelobter Inszenierung von Gerhart Hauptmanns «Die Ratten» (2012) spielt sie die Pauline als zornige, stolze Gassenschönheit, als vollkommen heruntergewirtschaftete Figur, die nichts mehr zu verlieren hat – und die gerade darum kämpft wie eine Berserkerin. Auch diese Inszenierung wurde zum Theatertreffen geladen.

Ganz anders – und doch unverkennbar sie selbst – kommt sie in Forsythes «Artifact» aus dem Jahr 1984 daher, das 2010 vom Bayerischen Staatsballett einstudiert wurde: Da verkörpert Strong die elegant-dämonische «Dame im historischen Kostüm», ein lebendiges Zitat der Ballettgeschichte, aber auch eine singsangende Gastgeberin und Verführerin, die das Publikum mit den doppelbödigen Worten begrüßt: «Welcome to what you think you see!» Und die später zur zornbebenden Geliebten wird, die im Streit mit ihrem Ehemann das Bühnenbild zertrümmert.

Kate Strong spielt Kämpferinnen, Liebende, Rasende, denen stets etwas Lebenserfahrenes, Wissendes zu eigen ist. In einer unverwechselbaren Verbindung aus verrauchter, sanfter, röhrender Stimme, zierlichem Körper und Draufgängertum. Mit einem enormen Körperbewusstsein bis in die Fasern, mit britischem Akzent und einer Zunge, die sich hörbar durchs Deutsche tastet. Denn die Sprache, die muss sie sich einpauken. Manchmal dauere es Wochen, berichtet sie, bis sie ein Wort gelernt habe – beispielsweise bei Dramen von Heinrich von Kleist.

Kate Strong mischt den Laden auf


Als ausgebildete Tänzerin, die heute zumeist im Schauspiel arbeitet, performt sie ziemlich entschieden auf der Grenze des Stadttheatersystems. «Bei den Proben zu ‹Woyzeck› in Zürich, das werde ich nie vergessen, haben der Woyzeck-Darsteller und ich begonnen zu improvisieren, und als ich tun wollte, was ich passend fand, sagte er: ‹Oh, du musst noch lernen, wie man das macht.›» Auch heute noch passiere es, dass ihr jüngere Schauspieler*innen erklären wollten, «wie es geht». «Aber ich gehe nicht noch einmal in die Schule, ich lehne es ab, noch einmal bei null anzufangen!», erklärt Strong resolut. Die Regisseur*innen, mit denen sie zusammenarbeitet, schätzen ohnehin gerade das: Dass sie den Laden eher aufmischt, als sich seinem vermeintlich feststehenden Regelwerk zu unterwerfen.

«Weil sie selbst so verrückt an die Sache herangeht, ist alles möglich, sie fordert einen dazu auf, sich frei zu machen», sagt Ersan Mondtag. «Kate ist eine Künstlerin auf Augenhöhe, die den Abend maßgeblich mitgestaltet. Sie hat einen starken Einfluss auf meine Arbeit.» Durch ihren reichen Erfahrungsschatz stifte sie sowohl ihn als Regisseur als auch die anderen Schauspieler*innen dazu an, zu experimentieren und an die Grenzen dessen zu gehen, was sie für möglich halten. «Sie verändert die Grundstruktur einer Arbeit, ohne dass sie es beabsichtigt, ganz automatisch, ganz still. Ich habe extrem viel gelernt mit Kate. Und lerne auch immer noch.» Und auch Kate Strong schwärmt, wenn sie von Ersan Mondtag spricht: «Er erinnert mich total an Bill Forsythe. Diese Energie und dieser Glaube an das, was er macht. Diese Verrücktheit und Intelligenz.» Die besondere Qualität von «Tyrannis» sei zustande gekommen, weil sie alle gemeinsam quasi auf der Probebühne gelebt haben, das Filmset selbst eingerichtet und gebaut haben und darin Abende und ganze Nächte verbrachten.

Karin Henkel schickt ein höchst charmantes Statement via E-Mail, in dem sie zu Protokoll gibt, dass Kate Strong quasi alles kann: «Kate kann tanzen, Kate kann schauspielen, Kate kann Englisch, sie kann Deutsch (naja), sie kann Form, sie kann Freestyle, sie kann dreckig, sie kann sensibel, sie kann zart, sie kann wild, sie kann albern, […] sie kann uneitel, sie kann wunderschön, sie kann denken, sie kann Emotion.» Nur eines könne sie wirklich nicht besonders gut, nämlich hören – Kate Strong leidet seit Jahren unter Schwerhörigkeit. Und genau das sei ein Geschenk in der Arbeit. «‹Yes honey, ok sweetheart, sure darling›, erwidert sie auf meine Inszenierungsvorschläge, und macht dann doch meistens etwas ganz anderes. Hat sie es nicht verstanden, oder geht sie radikal ihren eige­nen Fantasien nach? – Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist das, was sie dann macht, so einzigartig, so schräg, so kreativ, dass sie mich mit ihrer Assoziationsfähigkeit immer wieder aufs Neue verblüfft.»

Als staunende Zuschauerin, die die rasanten Verwandlungen des veritablen Bühnen-Rumpelstilzchens verfolgt, kann man dem nur zustimmen. Und als was würde sich Kate Strong selbst bezeichnen? Als Tänzerin? Schauspielerin? Künstlerin? «Ich würde mich nie Künstlerin nennen. Andere Leute dürfen das sagen, aber ich nicht. Ich bin Performer.» Sagt sie, zieht an ihrer Zigarette. Winkt einem Schauspiel-Mitarbeiter in der Ecke zu. Und ist verschwunden.


Theater heute Juni 2017
Rubrik: Akteure, Seite 37
von Esther Boldt

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