Mehr erste Male!

Die Kritische Reise Berlin/Avignon aus Publikumssicht ist zu Gast beim Berliner Theatertreffen und sucht nach einem erlebbaren Wir

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Mit einer rosa Picknick-Decke, Strohhüten auf dem Kopf und ordentlich Lametta – ganz nach dem Motto «Früher war mehr und so weiter», haben wir es uns vor dem Haus der Berliner Festspiele gemütlich gemacht. Bevor die nahenden Zuschauer:innen-Massen und Theatermacher:innen die kalten, dunklen, staubigen, paddong, ich meine natürlich goldenen Säle und vom Licht der Aufklärung durchfluteten heiligen Hallen betreten, versuchen wir draußen im warmen Sonnenschein der Öffentlichkeit mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.

Bei einem Glas Sekt und zu französischen Chansons, die kultiviert aus unserer Musikbox tönen, stellen wir dem hilflosen Publikum ungeniert Fragen wie «Was ist dein Beziehungsstatus mit dem Theater?» Dicht gefolgt von «alter Ehe» und «not divorced yet» gewinnt die «langjährige toxische Beziehung». – Wie konnten wir das als Antwortmöglichkeit auf unserem Fragebogen nur vergessen, wo wir doch alle wissen, wie schmerzhaft, zerstörerisch und am Ende dann doch sooo schön das Arbeiten in der Kulturbranche ist? Für alle, die es schaffen sich zu trennen, kommt dann als nächstes der «Sex mit dem Ex» – Zitat einer ehemaligen Theaterschaffenden, die den ganzen Zirkus endlich wieder genießen kann, nachdem sie nun eben nicht mehr, um bei der Metapher zu bleiben, mit ihm «verpartnert» ist. Aber bevor hier weiter intime Details preisgegeben werden, sollte ich uns vielleicht kurz vorstellen: «Wir» meint die Teilnehmer:innen der Kritischen Reise durch die Festivals Berlin-Avignon, ein Workshop-Programm, das unter diesem Namen seit sieben Jahren vom deutschfranzösischen Kulturzentrum CFB in Berlin sowie der Plattform für deutsch-französische Kunst (Plateforme) in Lyon organisiert wird. Jedes Jahr wird mit einer bilingualen Gruppe von jungen Theatermacher:innen und -begeisterten ein freier, kritischer Dialog im und über das Theater geschaffen, und zwar aus Zuschauer:innen-Perspektive! Nach einer langen Woche von Vorstellungsbesuchen, hitzigen Diskussionen und Begegnungen teilen wir unsere frisch gewonnenen Erkenntnisse also heute mit der Welt-, naja zumindest mit der deutschsprachigen Theateröffentlichkeit im Rahmen unseres Publikumstreffens – natürlich hoch inoffiziell. Aber warum eigentlich inoffiziell?

Publikumspodiumsdiskussionen
Irgendwie hatte ich gedacht, die Damen und Herren Theaterwissenschaft -ler:innen wären sich einig darüber, dass sich ihr Untersuchungsgegenstand zunächst und vor allem durch die Zuschauer:innen-Präsenz definiert. Ist es denn etwa nicht «der Zuschauervorgang, der das Wahrgenommene zum Theater macht»? So heißt es jedenfalls in Christopher Balmes Einführung in die Theaterwissenschaft. Unsere nächste Frage lautet ganz in Balmes Sinne: «Wenn Zuschauen eine Kunstform ist, welche:r Künstler:in bist du?» Meine Lieblingsantwort auf diese Frage: «Ich bin mehr so der Buddha-Typ», aber um beim Thema zu bleiben – wenn es neben der Bühnenkunst nun also wirklich so etwas wie eine Zuschaukunst gibt, die mehr beinhaltet als das bloße Schauen, warum fühlen wir uns als Zuschauer:innen dann nicht ernst genommen, warum wird uns im Theater keine Beachtung mehr geschenkt, und warum sind Publikumsgespräche inzwischen mehr Podiumsdiskussion als Räume fruchtbaren Austauschs?

Dieser Umstand liegt jedenfalls nicht nur unseren eigenen Erfahrungen im Laufe dieser Woche zugrunde, sondern spiegelt sich auch in den Reaktionen der von uns Befragten wider: Das Publikum und die Spieler:innen werden als zwei verschiedene Parteien bezeichnet, es ist von «denen da oben» die Rede, die vor dem Spiegel tanzen und ihren Spaß haben, und «uns da unten», die gelangweilt vor dem Guck-Kasten sitzen und mit denen «nicht umgegangen wird».

Ich könnte jetzt anfangen, Sartre zu zitieren, Wir-Bewusstsein, Objekt-Wir, Subjekt-Wir, der Blick des Anderen, blablabla, darauf habe ich aber keine Lust. Denn während wir über der Auflösung ewiger Dichotomien aktiver Akteur: -innen und passiver Rezipient:innen, Lehrer:innen und Schüler:innen brüten, vergessen wir schnell, dass, bevor wir das eine wurden, alle einmal das andere waren. Am Anfang unserer aller Beziehung zum Theater – egal ob frisch verliebt, polyamor oder verwitwet – waren wir doch alle Zuschauer:innen und bleiben es auch. Und deswegen interessieren uns weniger die «bemerkenswertesten (was soll das überhaupt bedeuten?) Inszenierungen», sondern vielmehr die bemerkenswertesten Zuschauer:innen-Erfahrungen, und man fragt sich einmal mehr, warum das eine nicht mit dem anderen einhergeht.

Modelle der Auseinandersetzung
In seiner Phänomenologie des Theaters verlangt Jens Roselt nach «Modellen zur Auseinandersetzung» in einer Welt, die auf schnellen Konsum setzt, von dem sich auch das Kulturmilieu nicht freisprechen kann. Da genau diese Modelle zur Auseinandersetzung kaum noch angeboten werden, auch nicht mehr im Theater, das sich in einer Art huis clos – dann jetzt also doch noch Sartre – wieder mehr künstlerischem Selbstzweck widmet als allem anderen, erscheint uns der «reflektierte Umgang mit der eigenen Erfahrung» im Rahmen unserer Kritischen Reise mehr als notwendig. «Mancher Zuschauer wird von der Werbung seines Theaters, die er im Briefkasten findet, besser erreicht als von dessen Aufführungen, die er vor Ort erlebt», schreibt Roselt weiter. Wie wär’s also mit Öffentlichkeitsarbeit im wortwörtlichen Sinne, sprich im Theatersaal und auf der Bühne? «I went to theatre like other people go to church, I believed in theatre, but I'm starting to think that someone took my church away», klagt eine junge Bühnenbildnerin kurz vor Vorstellungsbeginn. Und was ist es also, das wir suchen im Theater oder meinetwegen auch in der Kirche? Wir für unseren Teil wünschen uns, dass ein «Wir» erlebbar gemacht wird, wir wünschen uns Gemeinschaftserfahrungen und Verbundenheit, und wir wünschen uns Menschlichkeit. Wir müssen uns nicht unbedingt als Teil des Theaters fühlen, aber wir wollen uns als Teil der Gesellschaft spüren. Und so ist auch der Beziehungsstatus zum Theater möglicherweise vielmehr ein langes Menschsein als alles andere.

Eine der von uns Befragten nimmt Bezug aufs Kinder- und Jugendtheater, dort sei die Ausein -andersetzung mit dem Publikum noch eine andere, wenn nicht das wichtigste Element, hier gäbe es keine Grenzen, sondern Freiheit und Berührung, Ehrlichkeit und Direktheit und auf beiden Seiten wahre Spielfreude. Der Blick auf die Welt aus Kinderaugen kommt uns irgendwann abhanden, dieses etwas zum ersten Mal Sehen, Erleben und Fühlen. Und auch das wünsche ich mir vom Theater: mehr erste Male, mehr Verzauberung statt des ewigen Schnees von gestern in diesen glanzlosen Zeiten. Und statt intellektueller Debatten reicht es doch manchmal zu fragen: «Welcher Moment, welches Bild bleibt, und was hast du gefühlt?»

Für den Moment fragen wir uns das unter uns auf unserer rosa Decke, die von den Vorbeilaufenden teils neugierig, teils skeptisch beäugt wird, weil sie doch irgendwie ein bisschen aus dem steifen Rahmen fällt, und fühlen uns damit ein wenig allein. Aber vielleicht werden ja auch irgendwann wieder im Theater andere Fragen gestellt, Fragen, die uns alle angehen. Vielleicht denkt ja das Theatertreffen mal über die Möglichkeit eines Publikumstreffens nach. Dann selbstverständlich hochoffiziell, aber vielleicht trotzdem mit Lametta.

Aylin Suhrborg, Teilnehmerin der Kritischen Zuschauer:innen-Reise, im Namen der gesamten Gruppe: Dana Chanussot, Julia Cozic, Anaïs Durand-Mauptit, Léa Germain, Jeanne Violette Heindrichs, Céline Marie Hülsemann, Elisa Joliveau-Breney, Thomas Kellner, Nathan Larbey, Sonja Preu, Leila Vidal Sephiha, Charline Wiech


Theater heute Juli 2024
Rubrik: Magazin, Seite 65
von Aylin Suhrborg

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