Litanei der Schmerzen

Amir Gudarzi «Quälbarer Leib – ein Körpergesang» am Landestheater Detmold

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Schließlich wechselt der Schrecken die Richtung. So wie über lange Zeit Geflüchtete aus vielen armen, geschundenen und verwüsteten Welten Zuflucht gesucht hatten in der Mitte Euro -pas, so ist nun deren Bevölkerung, vor allem die deutsche, verzweifelt auf der Flucht – und versucht, die in inneren Kämpfen verheerte Heimat gegen irgendeine neue einzutauschen, um jeden erdenklichen Preis.

Die «Festung Europa» hat das zweite, noch schlimmere Gesicht gezeigt – Zaun um Zaun und Grenze um Grenze aufgerüstet, um «die Fremden» fernzuhalten, sorgt sie nun umgekehrt dafür, dass niemand mehr hinaus kommt.

Amir Gudarzi, Jahrgang 1986 und bis zur Flucht in den europäischen Westen im Iran aufgewachsen, lebt mittlerweile in Wien und zählt zu den erfolgreichen Autoren im deutschen Theater; das jüngst am Landestheater in Detmold uraufgeführte Stück lässt er mit finsterer Konsequenz an das schlimmstmögliche Ende treiben. Schon der Titel ist ja keine Einladung: «Quälbarer Leib – ein Körpergesang» heißt die weithin chorisch strukturierte Litanei der Schmerzen. Wo von «Leib» und Qual die Rede ist, zitiert Gudarzi den Soziologen Gerhard Scheit, der sich seinerseits auf Bertolt Brecht und Walter Benjamin bezieht, beide Flüchtende in ihrer Zeit; und der «Gesang» nutzt schon antike Motive. Wei -tere folgen. Gudarzi erklärt im Programmheft, dass der Text noch vor Russlands Angriff auf die Ukraine entstanden ist, also nicht als Antwort taugt auf die plötzliche Rückkehr des Krieges zwar nicht in die Mitte Europas, aber immerhin (und beunruhigend genug!) in nähere Nachbarschaft. Mit diesem Text gewann der Autor vor zwei Jahren in Detmold den mit 15.000 Euro dotierten Christian-Dietrich-Grabbe-Preis.

Ausgezeichnet wird Gudarzi seit 2017 recht regelmäßig: «Wonderwomb» erhielt parallel zum Grabbe-Preis vor zwei Jahren den Kleist-Förderpreis (und wurde in Marburg uraufgeführt), «Am Anfang war die Waffe» startete Ende 2022 in Wien, die deutsche Erstaufführung folgte zu Beginn dieser Spielzeit am Theater in Münster. Anfang des Jahres stellte das Nationaltheater in Mannheim Gudarzis jüngsten Text vor: «Als die Götter Menschen waren»; in Mannheim ist Gudarzi auch Hausautor. Und im vorigen Jahr erschien der erste Roman des Schriftstellers: «Das Ende ist nah». Von der Gewalt im Iran erzählt er und von den Schwierigkeiten iranischer Asylbewerberinnen und Asylbewerber, wie er sie selbst erfahren hat.

Dieses Leben und Leiden ist auch Ausgangspunkt vom «Körpergesang» – was halten wir aus in verschiedenen Formen von Inferno? Um diese Frage aus unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen, gestaltet der Autor sehr handfeste, aber poetisch stark überhöhte Szenarien, durch die der in Detmold neunköpfige Chor hindurch geht. Eine Minensucherin steht im Mittelpunkt zu Beginn und gegen Ende; und überall beschwört der Text den viel zu oft in diesem Horror-Job alltäglichen Schrecken, dass es Blut und Körperteile regnet.

Gestein vermutlich auch, denn Frank Albert hat die schroffen Klippen eines kleinen Gebirges auf die Drehbühne gebaut, in denen Menschen umstandslos verschüttgehen können: abgestürzt und zerschmettert. Weitere für die Uraufführung entscheidende optische Effekte gehen auf die Rechnung der Bühnen- und Kostümabteilung – alle im Chor etwa sind hauteng in ansatzweise fleischfarbene Kostüm-Montagen gezwängt und virtuellen Leichen nach Tod und Zerstörung bedrückend ähnlich. Und wenn sich Gudarzi wortgewaltig einschießt auf «die europäische Politik», tragen viele im Ensemble bösartig-verzerrende Monster-Masken auf dem Rücken, und mit ihnen spielen sie (rückwärts ins Publikum!) groteske Fratzen-Wesen, Brachial-Karikaturen, von denen selbstverständlich nichts Gutes zu erwarten ist.

An diesem Europa, das so viele für die Rettung aus der Not hielten, für eine Art Paradies, lässt der in Österreich bis zur Staatsbürgerschaft integrierte Schriftsteller jedenfalls nicht die Spur, nicht die Spitze von einem guten Haar.

Das ist das zentrale Motiv – Europa trägt Schuld am eigenen, auf der Bühne herbeivisionierten Untergang. Die Methode aber führt über weite Strecken der knapp zwei Stunden auch ganz woanders hin – zum glücklosen Erfinder Dädalus etwa, der den Sohn Ikarus fliegen und in den Tod stürzen ließ; er wird hier zum Erbauer der «Festung Europa». Odysseus zitiert der Autor herbei, dessen Irrfahrten sich wiederfinden in den Fluchtbewegungen überall; und auch den einäuigen Riesen Polyphem, den Odysseus überlistet und vernichtet. Wer sich ein wenig auskennt in antiken Tragödienstoffen, ist in Detmold gut munitioniert – wer nicht, kann vor der überaus ambitionierten Konstruktion des Stückes auch ein wenig ratlos bleiben. Islamistische Mythen kommen hinzu – etwa die von den Jungfrauen, die Märtyrer im Paradies erwarten … das ist ganz schön viel auf einmal. Dabei versucht Regisseur Jan Steinbach mit großer Energie, die Wendungen, Umwege und Verwirrspiele des Textes kompakt in Bewegung zu halten, und das Ensemble des Landestheaters teilt diese Kraftanstrengung rückhaltlos. Das ist zum Staunen – aber es gibt auch Effekte, die in die Irre führen. Gleich zu Beginn sind etwa eine Handvoll Darstellerinnen und Darsteller im Publikum verteilt und fragen verständnislos, was das denn wohl solle: das Preisträgerstück eines iranischstämmigen Autors in der heiligen Halle des Detmolder Landestheaters? Moment mal: Traut die verdienstvolle Bühne etwa dem eigenen Publikum, den Abonnentinnen und Abonnenten gar, so viel Weltoffenheit gar nicht zu?

Das wäre ein Fehler. Denn Detmolds Theater-Gemeinde weiß, was sie am verkannten Lokal-Poeten Grabbe hat – wer den Preis in dessen Namen bekommt, wird vorurteilslos anerkannt. Parallel zur Uraufführung verliehen Landestheater und Christian-Dietrich-Grabbe-Gesellschaft erstmals den aktuellen, mit 5000 Euro dotierten Förderpreis an die aus Rostock stammende Dramatikerin Henriette Seier. Deren Stück «Drama für den Kopf. Ein Klamauk» wurde per Online-Auswahl gekürt; also von all jenen, die in Detmold ins Theater gehen. 
www.landestheater-detmold.de


Theater heute Juni 2024
Rubrik: Chronik, Seite 55
von Michael Laages

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