Linke Seite, rechte Seite
Eine Reise wie nach Staucha hatte es zuvor noch nicht gegeben; schon weil die kleine Gemeinde nicht ganz so leicht zu finden ist am Rande der «Lommatzscher Pflege», einem Obstanbaugebiet in Mittelsachsen; Riesa ist die nächste größere Stadt.
Kleinere Schilder an den Straßen im Dorf und ein größeres am Eingang zu einem schlossartigen Guts -hof verkündeten unübersehbar, wo Peter Sodann hier auf Zeit zu Hause war – die Bibliothek, die den Namen des Schauspielers, Theatermachers, Intendanten und passionierten Büchersammlers trug, füllt zwei große scheunenartige Flügel des Geländes, das im Zentrum der Gemeinde auch die Verwaltung beherbergt. Beim Besuch im Herbst vor mittlerweile vier Jahren führte Sodann durch diese Bibliothek, mit der er sich das Ziel gesetzt hatte, unter einem Dach möglichst alle Bücher zu versammeln, die in der DDR zwischen 1949 und 1990 erschienen waren.
Zwei langgestreckte Hallen waren schon voll bis unters Dach, ordentlich sortiert nach Namen und Erscheinungsdaten, weitere Unmengen von Kartons warteten aufs Auspacken und die Registrierung – denn es ging ja nicht nur um die einst anerkannte und nach der Wende weithin rücksichtslos entsorgte Literatur, es ging tatsächlich um alles, was aus Druck-Maschinen in der DDR gekommen war – Peter Sodann ist halt auch ein Sisyphos gewesen.
Natürlich war er rasend stolz an diesem Spätsommertag: «Wir können uns auch in die Sonne setzen», hatte er zur Begrüßung gesagt; aber natürlich wollte er dem angereisten Wessi vor allem dieses Bücher-Reich zeigen, auch die kleine Bühne, die er gelegentlich noch bespielte und bespielen ließ, auch den «Ehrensaal», an dessen Wänden er signifikante Plakate und Schilder aus vier Jahrzehnten DDR-Geschichte drapiert hatte. Dann gab’s Kuchen und Kaffee, und wie brummig und reserviert er sich dem Fremden gegenüber auch gab, so hat er doch viel erzählt. Der Ärger kam mit Verzögerung – was er da zu Protokoll gegeben habe, so teilte er mit, wolle er letztlich lieber doch nicht lesen in jenem Buch zum 40-jährigen Bestehen des Theaters, das er gegründet hatte. Intendant Matthias Brenner, Sodanns Nach-Nachfolger, hatte das Buch zum Jubiläum initiiert; Arbeitstitel: «40 Jahre, 40 Köpfe», konzipiert als Sammlung von Gesprächen mit Zeuginnen und Zeugen der Zeit. Neben den Schauspielerinnen Elke Richter und Katrin Sass wurde der Grafiker Helmut Brade befragt, der das Theater über Jahrzehnte mit Plakat-Motiven begleitete, oder der Architekt, der Sodanns Theater-Bau bis zum Schluss betreut hatte, Krimi-Schriftsteller Stephan Ludwig (der mal Kulissenschieber war) und der Theater-Arzt. Sodann, der Gründer, war am Ende tatsächlich nur als Foto präsent. Geblieben war ihm wohl das Misstrauen der Welt gegenüber, wie sie geworden war in der «neuen» Zeit nach der Wende. Was aber hatte er wirklich erzählt? Und wovon?
Berlin, Magdeburg, Halle
Von Weinböhla unweit von Dresden, wo er aufgewachsen war; von der Mutter hat er erzählt – und von deren Entscheidung, wo sie nach dem Tod des Vaters an der Ostfront wohl bleiben sollten bei Kriegsende 1945: auf der «linken Seite» der Elbe, wo die amerikanischen Besatzer sich festgesetzt hatten, oder «auf der rechten», da, wo die russischen Truppen dann blieben für gut vier Jahrzehnte? Mutter und Sohn blieben bei den Russen.
«Ich bin ein betender Kommunist» – so formulierte es Sodann im Gespräch. Auch das war eine Art Erbe: Der Vater war Stanzer von Beruf und politisch aktiv, die Mutter (sehr gläubig und vom Lande) hatte dem Mann wohl das Leben gerettet, als sie ihm das Parteiabzeichen aus dem Portemonnaie stibitzte; so war er bei Razzien durch Nazis und Polizei nicht mehr in Gefahr. Der Sohn wurde Werkzeugmacher, erarbeitete sich den Zugang zum Studium an der «Arbeiterund Bauern-Fakultät» (ABF) und studierte dann in Leipzig zunächst Jura, dann Schauspiel. Dort gründete Sodann auch das erste kleine Theater: ein legen -däres Studierenden-Kabarett, den «Rat der Spötter», sorgsam bewacht von der Obrigkeit. Sodann saß kurz im Knast, die Partei schloss ihn aus.
Tatsächlich beginnt der Weg durchs Theater 1964 in Berlin und bei Helene Weigel am «Berliner Ensemble», weite -re Stationen als Schauspieler sind Erfurt und Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz. In Magdeburg bewirbt sich Sodann erfolgreich als Schauspiel-Chef, vier Jahre später zieht er weiter nach Halle. Dort residiert damals noch ein «Landestheater», und das Schauspiel arbeitet quasi zur Untermiete im Opernhaus.
Das reicht dem neuen Schauspiel-Direktor natürlich nicht. Nicht weit von Oper und Universität gibt es einen früheren Tanzpalast, der nach dem Krieg zum Kino umgerüstet worden ist, zunächst vor allem für russische Kundschaft; es steht ziemlich leer und wird zum Kern dessen, was heute die «Kulturinsel» ist – mit dem zen -tralen, flexibel gestaltbaren Theatersaal und den Kammerspielen –, das zu Beginn mal «Kommode» hieß und auch so wirken sollte. Mit der kleinen «Schaufenster»-Bühne heute gleich neben dem Eingangsbereich unten in der Alt-stadt und mit dem Puppentheater, das gerade 70 Jahre alt wird und in der Intendanz von Christoph Werner (der 2005 auch Sodanns erster – und sehr unglücklicher – Nachfolger wurde) brillant vernetzt ist in internationalen Partnerschaften. Einige Gästezimmer hat das Theater auch – eigentlich wollte Sodann sogar ein richtiges Hotel etablieren neben dem und quasi im Neuen Theater. Gleich zwei sehr spezielle Kneipen gab’s und gibt’s obendrein: «Strieses Biertunnel», benannt nach der Hauptfigur im deutschen Schwank vom «Raub der Sabinerinnen», und das Theatercafe gleich bei der Tram-Station unten in der Altstadt.
Irrtum Castorf
Hier ist besonders viel von Sodanns Geist zu spüren – Teile der Familie arbeiten hier, und alle Wände stehen voller Bücher, ähnlich wie in der Bibliothek von Staucha. Und die Fenster stehen voller Kaffeekannen, in mehreren Etagen.
Unbestreitbar einzigartig ist also das Bau-Profil, ist die Struktur, die Peter Sodann diesem Theater verpasste; auch die Qualitäten des Theaterleiters, speziell unter den Zwängen der Mangelwirtschaft in der DDR, waren außerordentlich: Weil er jeden und jede kannte und mit allen reden konnte, auch mit den in der SED-Leitung einflussreichen Genossen Horst Sindermann und Heinz Felfe, machte er auch das Unmögliche meist möglich; und wenn er sich ins Auto setzte und herbeischaffte, was benötigt wurde. So hatte er ja auch den Bau und die ständigen Renovierungen und Ergänzungen des Hauses bewältigt – in Handarbeit und unter tätiger Mitarbeit aller im Haus Beschäftigten. Was er denn für ein Handwerk beherrsche, wurde etwa der Schauspieler Thomas Bading im Einstellungsgespräch befragt.
Für welche Art von Theater Sodann aber stand – diese Frage ist nicht ganz so leicht zu beantworten. Eine Art Volkstheater war Sodanns Ziel, gerne auch eins, das zum verordneten Sozialismus gut passte. In dieser Hinsicht folgte er dem zehn Jahre älteren Kollegen Horst Schö -nemann, der lange vor Sodanns Zeit das Theater in Halle ins Zentrum der Erneuerung im DDR-Theater rücken wollte. Dass das nicht genug sein konnte, war Sodann wohl klar: Mitte der 80er Jahre holte er Frank Castorf als Oberspielleiter. Ein Irrtum – nach einer Lorca-Fantasie (über «Bernarda Albas Haus») war Schluss. Aber wer dabei war, spricht heute noch davon. Auch Castorf selbst.
Peter Sodann formte ein starkes Ensemble: mit Katrin Sass und Elke Richter, kurzzeitig in der Aufbruchszeit auch mit Thomas Thieme (der mit Sodann aus Magdeburg kam), mit Hilmar Eichhorn (der vor der Wende in den Westen ging und danach zurückkehrte) oder Peter W. Bachmann, der als Studien-Absolvent nach Halle kam und erst im Sommer vorigen Jahres ausschied und mit Intendant Brenner Abschied von dieser Bühne nahm. In der Zeit des Intendanten Christoph Werner ab 2005 – Sodann selbst spielte danach weiter als «Tatort»-Kommissar und gab 2009 den Bundespräsitent-Kandidat der Linken – wurde auch das wichtige Studio für Student:innen aus Leipzig in Halle installiert.
Aber all das geschah schon nach Sodann. Im Zorn und unter starkem Druck der Stadt war er 2005 gegangen (worden); überall im Haus war danach der unfreundliche Einfluss des beleidigten Ex-Intendanten zu spüren. Die Nerven lagen blank; Nachfolger Werner (den Sodann selber empfohlen, ja sich als Nachfolger gewünscht hatte) kämpfte aufopferungsvoll – aber mit den neuen Regiekräften, etwa der heute so erfolgreichen Claudia Bauer, war in Sodanns Theater nicht viel zu gewinnen. Auch nicht mit Herbert Fritsch, dessen Karriere als Regisseur ja in Halle begann – und der vor lauter Mobbing krank wurde.
Auch das ist ein Teil der Geschichte um Halle und Peter Sodann; erst mit Matthias Brenners Berufung in die Nachfolge von Christoph Werner (der erfolgreich ins Puppentheater zurückkehrte) begann sich der Alltag am Neuen Theater zu normalisieren. Jetzt geht schon das erste Jahr der Brenner-Nachfolgerinnen Mareike Mikat und Mille Maria Dalsgaard zu Ende.
Und Peter Sodann ist gestorben, ziemlich genau 43 Jahre nach dem Auftakt zur Geschichte des Neuen Theaters, des Denkmals, dass er sich zu Lebzeiten schuf. Das bleibt, über jeden Streit hinaus. Das ist das Erbe – vielleicht kann auch die Bibliothek in Staucha überleben und an diesen sehr besonderen Menschen erinnern; wie es Sodanns Neues Theater in Halle täglich tut.
Theater heute Mai 2024
Rubrik: Magazin, Seite 67
von Michael Laages
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