Krisen und ihre Unterschiede
Theater heute Es gibt viele internationale Festivals, nun gibt es eines mehr: «Performing Exiles» der Berliner Festspiele, erfunden und kuratiert von Matthias Lilienthal. Was ist daran besonders?
Matthias Lilienthal Es ist ein Festival, das sich einer verborgenen Berli - ner Szene widmet, nämlich Künstler:innen, die hier leben, aber nicht deutscher Herkunft sind, Expats. Dazu angeregt hat mich die Beschäftigung mit dem Libanon Festival in Frankfurt 2022.
Rabih Mroué sagte da einmal, er fühle sich inzwischen im Libanon im Exil, weil ihm die Gesellschaft dort – als gebürtiger Libanese – fremd geworden sei. Und als ich damals viele Künstler zu Videokonferenzen eingeladen habe, sagten viele: «Warum sollen wir zoomen, ich lebe doch sowieso in Neukölln.» Es gibt einfach eine riesige Szene von palästinensischen, ukrainischen, russischen, belarussischen Menschen oder südafrikanischen Filmleuten in Berlin. Exil bedeutet nicht mehr notwendigerweise, dass man politisch verfolgt ist, sondern es gibt inzwischen eine Art globales Exil, das sich in Berlin versammelt. Und so ein Festival macht dann eben gerade innerhalb der Berliner Festspiele besonders Sinn.
TH Gibt es solche Szenen denn auch in anderen europäischen Hauptstädten wie Paris oder London – oder ist das ein spezielles Berliner Phänomen?
Lilienthal Das libanesische Exil beispielsweise hat viel mit der Arbeit des DAAD zu tun, der viele bildende Künstler nach Berlin eingeladen hat. Die Londoner internationale Szene hängt natürlich viel mit den Verbindungen in die früheren Kolonialreiche und den Commonwealth zusammen, ähnlich in Paris. Natürlich hat es auch mit der «Berlin ist arm, aber sexy»-Stimmung der Nuller Jahre zu tun, als Berlin für Künstler eine billige und reizvolle Stadt war.
TH Die Zeit der billigen Räume ist aber vorbei.
Lilienthal Nicht unbedingt. Man kommt nach Berlin, weil man hier Leute kennt, dann gibt es erschwingliche Untermietverträge und so fort. Maksym, warum bist du zum Beispiel nach Berlin gekommen?
Maksym Rokmaniko Ich komme aus dem Kontext von Architektur, Theorie und Medien, da gibt es eine große Community hier. Meine Freunde leben hier und in Kiew, wo ich noch mein Büro habe, also war Berlin naheliegend.
TH Können Sie dann auch von hier arbeiten?
Rokmaniko Das wird jetzt eine längere Antwort. Mein Büro in Kiew ist das Center for Spatial Technologies und hat sich im Kern damit beschäftigt, fortgeschrittene Architektur-Software in den Bereichen Kulturwissenschaft, Stadtentwicklung, Nachhaltigkeit anzuwenden. Zentrale Anwendungsbereiche waren Klimawandel und Bautechnik; wir haben beispielsweise Gebäude daraufhin untersucht, aus welchen Materialen sie bestehen, welchen CO2-Fußabdruck sie haben und wie man das verbes -sern kann. Finanziert wurde diese Arbeit von der Europäischen Kommis -sion. Das ist unsere ursprüngliche Arbeit. Daneben bekamen wir 2020 einen großen Auftrag für ein Theaterprojekt vom Babyn Jar Memorial Holocaust Center BJMHC, einen der schlimmsten Tatorte des Holocaust zu recherchieren, das Gelände von Babyn Jar. Dazu muss man wissen, dass es diese Schlucht heute nicht mehr gibt, man wusste in Kiew nicht einmal genau, wo die Massenerschießungen stattgefunden haben, das Gelände wurde später eingeebnet und teilweise überbaut. Also haben wir Fotos, Quellen, Sachverständige und topografische Karten aus den 1920er Jahren herangezogen, um das zu recherchieren.
TH Sollte das nicht ein übrigens sehr kontrovers diskutiertes Reenactment-Projekt von Ilya Khrzhanovsky werden?
Rokmaniko Unser Anteil war der wissenschaftliche Auftrag, die historischen Ereignisse im Raum zu verstehen. Das Projekt war sehr umstritten, aber wir haben dafür die wirklich solide wissenschaftliche Recherche geliefert. Auf unsere Ergebnisse bin ich auch ziemlich stolz, mit dem geplanten immersiven Theaterprojekt habe ich weiter nichts zu tun. Im Zuge dieser Arbeit sind wir auch auf Eyal Weizman und die Rechercheagentur Forensic Architecture gestoßen, mit dem wir unsere Ergebnisse durchgesprochen haben. Das war eine tolle Erfahrung. Auf Eyal Weizman sind wir zuerst durch Milo Rau und Matthias Lilienthal aufmerksam geworden.
TH Aber in ihrem gemeinsamen neuen Projekt geht es um das von Russland zerstörte Theater von Mariupol.
Rokmaniko Auch das ist eine längere Geschichte. Wir hatten also die Erfahrung mit Babyn Jar, als am 24. Februar 2022 der russische Überfall begann. Ich war im Büro und versuchte am Telefon herauszufinden, was eigentlich los war. Die Dinge haben sich extrem schnell entwi -ckelt, es gab chaotische Berichte, wir wollten uns orientieren: Wohin zielen die russischen Vorstöße, wie schnell kommen sie voran, welche Orte werden angegriffen? Ein Wohngebäude nahe dem Haus eines Freundes wurde von einer Rakete getroffen, und wir gerieten in Panik. Am zweiten Tag beschlossen wir, Richtung Westukraine zu fliehen. Währenddessen haben die Russen den Fernsehturm angegriffen, ganz nah an unserem Büro. Der Turm steht auf dem ehemaligen Babyn-Jar-Gelände, das wir ja zwei Jahre lang analysiert haben und sehr genau kennen. Die zweite Rakete dort schlug genau dort in den jüdischen Friedhof ein, wo es eine islamische Abteilung gibt und die Menschen aus der Krim bestattet sind. Das war der Moment, der uns gepackt hat. Die russische Propagandamaschine hat ja immer behauptet, die Ukraine denazifieren zu wollen, und dann beschießen sie Babyn Jar! Also haben wir mit Eyal Weizman zusammen ein Projekt über den Kiewer Fernsehturm gemacht, und als dann das Theater in Mariupol mit der darin geflüchteten Bevölkerung beschossen wurde, haben wir uns sofort damit beschäftigt.
TH Sie haben dafür viele Gespräche mit Überlebenden geführt. War das nicht sehr schwierig und schmerzhaft?
Rokmaniko Natürlich haben wir uns vorbereitet, hatten psychologische Begleitung und haben sehr schwierige Gespräche erwartet. Wir haben 60 Überlebende ausfindig gemacht, davon waren 26 bereit, mit uns zu sprechen. Und schon nach dem ersten Interview mit einem Ehepaar, dass diesen Theaterfluchtort initiiert hat, war klar, dass es hier nicht nur um eine anonyme Gruppe einzelner Geflüchteter ging. Die Frau war Beleuchtungsmeisterin im Theater und hat dort schon 20 Jahre gearbeitet; ihr Mann war seit 19 Jahren Schauspieler und Requisiteur. Sie haben eine Riesenorganisation auf die Beine gestellt und begeistert davon erzählt: Aus Theatervorhängen und Tribünen für «Romeo und Julia» wurden Hunderte Betten gebaut und geschneidert, die Essensversorgung von bis zu 2000 Menschen sichergestellt, die Arbeitsverteilung, die Belegung des Kellers etc. Das Theater von Mariupol war nicht nur ein Ort der Tragödie, es war auch der Ort einer außergewöhnlichen Leistung. Wir haben dann in etwa einem Dutzend mehrstündiger Interviews vor einem Bildschirmmodell des Theaters all das bis ins Detail recherchiert. Natürlich auch die Explosion und was danach geschah. Es war mehrere Wochen lang eine richtige Kommune. Es gab verteilte Dienstleistungen, es gab Wachen, es gab Leute, die sich ums Feuerholz gekümmert haben, die Wasser vom Brunnen geholt, Besorgungen organisiert haben. All das ist im Detail wichtig, auch wenn später einmal Anklagen erhoben werden. Natürlich gab es schwierige Situationen in den Gesprächen, die Toten, die Bombardierung. Wir haben aber nichts forciert. Die Leute haben oft wie in einem Bewusstseinsstrom erzählt.
TH Es gibt viele widersprüchliche Berichte über die Zahl der Toten, und es scheint unklar, wie viele nach der Bombardierung im Schutt gefangen waren und umgekommen sind.
Rokmaniko Die Berichte reichen von mehreren Dutzend bis zu 600 Opfern. Wir versuchen, die Zahl so genau wie möglich einzugrenzen; das ist nicht einfach, aber sehr wichtig, gerade weil Russland alles versucht zu vertuschen. Sie haben einen Zaun um das Gelände errichtet, die Ruine wird abgerissen, und diejenigen, die flüchten konnten, mussten durch zahlreiche russische Checkpoints und haben vorsichtshalber alle Fotos auf ihren Handys gelöscht. Auf dem Höhepunkt, am 14. und 15. März 2022, waren etwa 2000 Menschen im Gebäude, dann gab es eine Evakuierungswelle und ungefähr die Hälfte dürfte sie genutzt haben. Aber wir recherchieren die genauen Gebäudeverhältnisse und -verteilungen. Nun sind wir Architekten und kennen uns damit aus, aber die Leute im Theater kannten sich noch besser aus. Sie wussten, wo die tragenden Wände stehen, kannten die Gefahr an den Fenstern, die optimalen Belegungsverhältnisse.
Lilienthal Wir zeigen diese Lecture Performance deshalb im Haus der Berliner Festspiele, also einem wirklichen Theatergebäude. Auch, weil in Europa gerade das Theater im Vergleich zu anderen Medien weniger wichtig geworden zu sein scheint. Und das Theater in Mariupol ist auch eine Lektion darüber, was für eine existenzielle Dimension Theater haben kann.
TH Welche anderen Eigenproduktionen gibt es im Festival?
Lilienthal Ein weiteres wichtiges Projekt ist von Lemohang Mosese, einem Filmemacher aus Lesotho, der lokale Kulturen mit Elementen der griechischen Tragödie kombiniert. Er ist ein typischer Berliner, der seit zehn Jahren hier wohnt, kein Deutsch spricht, aber mit Englisch gut klarkommt. Er realisiert sein erstes Theaterprojekt und fragt etwa, was passiert genau auf einer Probe? Wenn er über seinen Ansatz redet, verstehe ich als Theatermacher keine zehn Prozent, aber er schickt mir dann auf eine Frage einen 3-Minuten-Film, der vieles erklärt. Er antwortet in Bildern auf Fragen von Migration, Rassismus, Kolonialismus, Gesellschaft. Für mich persönlich eine Erinnerung an die Arbeit mit Christoph Schlingensief 1993 in der Volksbühne, als ich von seinen Konzepten auch nicht mehr verstanden habe.
TH Es gibt auch die Arbeit einer Exilrussin, Ada Mukhina.
Lilienthal Sie kommt aus St. Petersburg, hat das Land 2014 verlassen, am Royal Court in London gearbeitet und letztes Jahr die großartige Lecture Performance «How to sell yourself to the West» gezeigt.
TH Sie war 2021 beim Radar Ost Festival im Deutschen Theater zu sehen.
Lilienthal Bei Performing Exiles wird sie einen site-specific Audiowalk veranstalten zu Menschen mit russischen Wurzeln in Wilmersdorf und Charlottenburg. Es gab die große nachrevolutionäre russische Exilbewegung nach Berlin vor 100 Jahren, es gibt aber auch eine starke russische Exilbewegung nach Berlin ab den 1970er Jahren und heute das Exil nach dem russischen Überfall auf die Ukraine von Menschen, die vor dem Putin-Regime fliehen.
TH Ist es ein Problem, zugleich mit ukrainischen und russischen Künstler:innen beim Festival zu arbeiten?
Lilienthal Wir haben viel darüber gesprochen, aber man muss dazu auch wissen, dass zu dem Zeitpunkt, als die Finanzierungen für das Festival feststanden und wir die Verabredungen mit den Künstler:innen getroffen haben, also vor zweieinhalb Jahren, die Kriegssituation noch eine andere war und sich niemand die heutige Situation vorstellen konnte. Nun bin ich jemand, der getroffene Vereinbarungen grundsätzlich einhält. Ich verstehe auch die Argumente für einen Boykott, wollte aber niemand canceln.
TH Herr Rokmaniko, ist es für Sie ein Problem, bei einem Festival aufzutreten, zu dem auch russische Künstler:innen eingeladen sind?
Rokmaniko Es wäre für mich ein Problem, wenn es irgendeinen Druck von Seiten des Festivals gäbe, einen Dialog zu führen oder eine Verbindung herzustellen. Ich sehe das Festival als Plattform, auf der wir unsere Arbeit präsentieren können – und zwar in einem Theaterkontext. Und ich vertraue insgesamt auf das Festival und Matthias Lilienthal, dass mit den offensichtlichen Schwierigkeiten verantwortungsvoll umgegangen wird.
Lilienthal Es gibt die klare Bitte der ukrainischen Künstler:innen: Versucht nicht, uns mit den russischen Teilnehmer:innen in Dialog oder Zusammenhang zu bringen, wir wollen auch nicht auf demselben Podium sitzen. Das respektieren wir natürlich. Und während ich sonst immer versuche, die Künstler:innen auf Festivals auch privat zusammenzubringen, werde ich das hier natürlich nicht tun.
TH Neben dem ukrainisch-russischen Konflikt stehen im Festival auch die politischen Hotspots Iran und Libanon im Mittelpunkt. Gibt es Verbindungslinien zwischen allen drei Konfliktzonen?
Lilienthal Mich interessieren eher die Unterschiede zwischen den drei Krisenfeldern. Im Iran gibt es diese junge, weiblich inspirierte Revolution; der Libanon ist ein gescheiterter Staat, der das tägliche Überleben zur Herausforderung macht. Wie probe ich in einem Raum ohne Stromversorgung, wie komme ich an sauberes Wasser und Essen? Natürlich liegen darüber Konflikte mit Hisbollah etc., aber das spielt für das tägliche Leben und Arbeiten keine Rolle. Die Ukraine wiederum ist eine Gesellschaft im Krieg, die sich im Krieg neu findet. Und natürlich möchte ich diese drei unterschiedlichen Konflikte an einem Tisch sehen und in Verbindung bringen zu einer lokalen Berliner Kulturlandschaft. Es steht auch die Frage im Raum, wie man mit Festivals umgeht in Zeiten des Klimawandels und der großen politischen Umbrüche. Ich denke, ein Festival, das größere Aufmerksamkeit auf diverse Communities lenkt, damit sie künstlerisch an dem Ort arbeiten können, wo sie leben – das ist die richtige Antwort zum jetzigen Zeitpunkt.
Das Gespräch führten Eva Behrendt und Franz Wille

Theater heute Juni 2023
Rubrik: Akteure, Seite 24
von Eva Behrendt und Franz Wille
ALTENBURG/GERA, THEATER
30. Samjatin, √My Episode I: Willkommen in Mytopia (U)
R. Manuel Kressin
BADEN-BADEN, THEATER
9. Majumdar, GewaltFreiheit – Tibet (Pah-Lak)
R. Lhakpa Tsering und Harald Fuhrmann
18. Golding, Herr der Fliegen
R. Isabell Dachsteiner
30. Norman und Stoppard, Shakespeare in Love
R. Lydia Bunk
BAMBERG, ETA HOFFMANN THEATER
30. von Horváth, Zur schönen Aussicht
R. Susi...
Es beginnt sehr laut, mit einem Auto-Crash – «Crash», so hieß Karsten Dahlems erster Kinolangfilm noch, als er bei den Hofer Filmtagen zum ersten Mal zu sehen war. Chrissi, Polizistentochter aus der badenwürttembergischen Kleinstadt Nußdorf, ist als Stuntfahrerin in einer Autoshow kollidiert, jetzt fährt die Profiraserin einen Rollstuhl, in dem sie in ihr Heimatdorf zurückkehrt, zum...
Aus diesem Grab, das ihr Leben ist, kommt Marie nicht mehr heraus. Anfangs lässt sie den Grubensand noch sanft durch die Finger rieseln. Dann versucht sie, sich an den Wänden hochzuziehen, immer wieder, doch der Staub hat sie glatt und unüberwindlich gemacht. Nur Woyzeck schafft es aus dem Erdloch (Bühne Julia Nussbaumer) zum klinisch weißen Haus hinauf, neonkalt knallt das Licht aus den...